Eine neue Art Powerfrau
Die Blaupause starker Frauen im modernen Actionkino wurde von Sigourney Weaver in „Aliens“ (1986) definiert. Sie offenbarte, dass Heldenfiguren zugleich tough und verletzlich sein konnten. Im Macho-Metier der Schwarzeneggers und Stallones ein durchaus extremer Gegenpol. Nur vier Jahre später wurde auch die Profession der Auftragsmörder nachhaltig feminin geprägt, als Luc Besson („Das fünfte Element“) sein stylisches Thriller-Drama „Nikita“ präsentierte.
Die Besonderheit des kühl ästhetisierten Klassikers (Kamera: Thierry Arbogast, „Das fünfte Element“) liegt, neben der weiblichen Hauptfigur, an deren Hintergrund- und Entwicklungsgeschichte, die das emotionale Rüstzeug garantiert, um am Schicksal der eingangs drogenabhängigen Punkerin Nikita (Anne Parillaud, „Bloody Marie“) Anteil zu nehmen. Beim bleihaltig eskalierenden Einbruch in eine Apotheke erschießt sie einen Polizisten und landet im Gefängnis. Psychopathische Tendenzen bescheren ihr eine lebenslange Haftstrafe nebst Sicherheitsverwahrung.
Durch den unscheinbaren Bob (Tchéky Karyo, „Dobermann“) wird ihr nach einem fingierten Suizid jedoch ein Angebot unterbreitet, das ihr Leben komplett auf den Kopf stellt: die Ausbildung zur Regierungskillerin. Da als Alternative nur der Tod bleibt, willigt Nikita ein. In einem unterirdischen Geheimkomplex durchläuft die Querulantin ein Training, das sie in verschiedenen Bereichen schult: Umgang mit Waffen und Computer, Nahkampf, Etikette. Als Lehrmeisterin der letztgenannten Disziplin tritt Alt-Star Jeanne Moreau („Jules und Jim“) in Erscheinung.
Besson lässt sich Zeit. Einleitung und Ausbildungsbeginn nehmen das erste Drittel der fast zweistündigen Spielzeit ein. Erst danach, bei einem dramaturgisch packend gestalteten Abendessen zu ihrem Geburtstag, geht es für Nikita zurück in die Außenwelt. Doch der Anlass ist nicht festlich: sie soll ihren ersten Mordauftrag erfüllen. Hier spielt Besson seine Klasse als Filmemacher aus, wenn das Wechselbad der Gefühle in gebotene Kaltblütigkeit mündet – und sich obendrein zum knallharten Überlebenskampf auswächst.
Eine (Anti-)Heldin wie keine zuvor
Anne Parillaud, die es wie Besson später (wenn auch nur kurzzeitig) nach Hollywood zog, arbeitet die Ambivalenz ihrer Rolle eindrücklich hervor – und läuft gerade dann zu Höchstform auf, wenn ihre Nikita bar jeder Berechenbarkeit agiert (ein Highlight: die kurze Tanzeinlage, nachdem sie ihren Nahkampfausbilder niedergestreckt hat). Nach ihrer „Entlassung“ in die Zivilgesellschaft findet sie beim einfühlsamen Supermarktkassierer Marco (Jean-Hugues Anglade, „Killing Zoe“) emotionalen Halt. Nur ahnt er nicht, wie seine Marie genannte Liebe ihren Lebensunterhalt verdient.
Ihre Tätigkeit als Agentin auf Abruf scheint mit einem normalen Leben kaum vereinbar. Zumindest nicht dauerhaft. Nikitas Welt ist unerbittlich. Wenn sie nicht spurt, wird sie beseitigt. Ganz einfach. Auch damit bewahrt Besson der meist unvorhersehbaren Geschichte (und seiner Hauptfigur) ihre traurigen Züge. Alles hat für Nikita zwei Seiten. Bobs Geschenk eines Urlaubs in Venedig entpuppt sich ebenfalls als (durch Marcos Anwesenheit intensivierter) Auftrag. Ein weiterer läuft so aus dem Ruder, dass „Cleaner“ Victor (Jean Reno als Vorstufe seiner Paraderolle in „Léon, der Profi“) ihr die Unmenschlichkeit der verdeckten Regierungsarbeit untrüglich vor Augen führt.
Nach seinem Erfolg mit „Im Rausch der Tiefe“ (1988), der in Frankreichs Kinos noch gezeigt wurde, als „Nikita“ Premiere feierte, empfahl sich der visionäre Filmemacher für größere Projekte. Eines davon, „Léon, der Profi“ (1994), darf als Steigerung seines zeitlosen Thrillers verstanden werden. Dabei wird dessen Vermächtnis, gerade für die Darstellung starker Frauen im Actionfach, nicht allein durch die beiden direkten Remakes – „Black Cat“ (1991) und „Codename: Nina“ (1993) – und die teils anknüpfenden TV-Serien (die eine lief von 1997 – 2001, die andere von 2010 – 2013) unterstrichen.
Die oft unkonventionelle und damit merklich vom US-Kino distanzierte Erzählung wird auch durch das Ende gestützt, das emotional ausfällt, ohne bereinigende Klarheit zu offenbaren. Für den fraglosen Mangel an Realismus erntete Besson zum Start des Films Kritik. Dabei ist es auch dieser dezenten Überhöhung der Wirklichkeit zu verdanken, dass die konsequent stilisierte Leidens- und Reifegeschichte der Nikita bis heute unverändert eindrücklich funktioniert. Ein Klassiker durch und durch.
Wertung: (8 / 10)