22.12.2022 – Chefdenker / Uli Sailor – Köln, Sonic Ballroom

Es war ein Konzert für Spätentschlossene. Denn nachdem der CHEFDENKER-Vorweihnachtsjubiläumsplattenveröffentlichungsauftritt am 23. Dezember in nullkommanix ausverkauft war, wurde eilig Ersatz (oder besser: Zusatz) geschaffen. Die am Vortag anberaumte Show war zwar ebenfalls ausverkauft, nur eben weniger schnell. Ergo sorg(t)en Santa Claus (Lüer) und Spießgesellen gleich zweimal für frühe Bescherung im ehrenwerten Sonic Ballroom zu Köln. Im Sack hatten sie einen Strauß bunter Melodien, zünftigen Kehlenbrand und Vorprogrammgestalter Uli Sailor. Für solche Konstellationen sind Phrasen wie „rauschendes Fest“ erschaffen worden!

Für Wahl-Berliner Uli war es ebenfalls ein Heimspiel. Zumindest fast. Denn der Mann am Piano stammt aus Jülich, wo er als Frontmann der D-SAILORS wohlige Erinnerungen an den Melocore der 90er schuf. In genau diese Ära zielt auch sein Solo-Wirken, bei dem er Punk-Rock-Evergreens am Tasteninstrument interpretiert. Auf dem Programm standen u. a. die Fat-Wreck-Urgesteine LAGWAGON („Island of Shame“), NOFX („Linoleum“) und NO USE FOR A NAME („The Answer is Still No“). Auch BAD RELIGION („You Are the Government“), MILLENCOLIN („Bullion“) und – beim Sprung ins neue Jahrtausend – TURNSTILE („Mystery“) wurden bedacht. Und die erinnerungswürdigen D-SAILORS, deren Beitrag sich der Erinnerung des Autors jedoch namentlich entzog.     

Anheizer der Herzen: Uli Sailor

Der Deutsch-Punk kam auch zum Zuge: Mit CASANOVAS SCHWULE SEITE („Grafenwöhr“) wurde dem Wirken Lüers Tribut gezollt (Uli in Anlehnung an Danger Dan: „‘Filmriss‘ kann schließlich jeder!“); obendrein der unlängst aufgelösten TERRORGRUPPE („Tresenlied“), die Uli in den letzten Jahren als ergänzendes Mitglied bereicherte, WIZO („Raum der Zeit“) und DIE GOLDENEN ZITRONEN („Für immer Punk“). Zwischendurch gab es Upright-Bass-Begleitung vom Schwager. So vergingen rund 45 sympathische Minuten, die, gemessen am konstanten Gesprächspegel im Raum, nicht jede*n packten, den Abend aber stimmungsvoll einläuteten.

Mit CHEFDENKER folgte darauf Ekstase. Wenn auch mit lädierter Physis. Denn Claus‘ Humpeln ließ eine Versehrtheit erahnen, die ihn jedoch nicht davon abhielt, Eindreiviertel Stunden Knallgas zu geben. So wurde gegrölt, gebechert und gejubelt; dabei eine Setlist bewältigt, die in ihrer Länge an mittelalterliche Kirchenvorplatzproklamationen erinnerte. Das kommende – und an diesem Abend selbstredend bereits käuflich zu erwerbende – Album „Asozialdarwinismus“ wurde u. a. über „Kreuzberger Morgen sind lang“, „Bier“ (Claus zwischen rhythmischem Kronkorkenknallen: „Aber Spaß beiseite, Bier ist schädlich!“), „Blues auf A Pt. I“ und „Der beste Papa der Welt“ vorgestellt. Das clevere Konzept dahinter, so schallte es von der Bühne, sieht vor, neue Songs zu präsentieren, die klingen wie die alten. Der Bandname kommt ja nicht von ungefähr!  

Unter den gefühlt 350 dargebotenen Songs fanden sich aber auch massenhaft erprobte Hits; solche wie „Buenos Dias Messias“, „Die Gezeiten“, „Der Mann mit dem Hut“, „Beim Friseur, im wilden Westen, im Supermarkt, im Allgemeinen“, „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Hass eingestellt“, „Schlau in die Krise rein, schlau wieder raus“, „Mythos Leberzirrhose“, „Polonäse Hüftprothese“, „Germany’s Next Systemgastronom/in“, „Scheidungskind“, „Agentur für Arschvoll“, „Hauptsache der Grill ist an“, „Backstagebier“, „Immer in Gefahr“, „Ü30 Disco“, „16 Ventile in Gold“ oder „Hitlers Autobahn“.  An Mitgrölpotential mangelte es nicht. An Bewegung vor der Bühne ebenso wenig.

Die Blockflöte des Grauens

Ein wenig schräg wurde es mit Aufkommen der Blockflöte, die für ein Ständchen hinzugezogen wurde, dass sich das aus dem Pulk berufene Geburtstagskind selbst darbrachte. Oder darbringen musste. Exakt erkennbar blieb der Umstand nicht. Es folgten experimentelle Additive und ein Flötensolo von Claus, das anspornte, die Schlagzahl beim Bierkonsum zu erhöhen. Großartig war auch der (relative) Unmut mancher darüber, dass am Ende eine (weitere) Zugabe ausblieb. Für 13,20 € Eintritt kann von den auftretenden Künstlern ja wohl eine Nachtschicht verlangt werden! Schön war’s trotzdem. Als störend erwies sich lediglich der aufbrandende Gestank auf der Fläche, der irgendwo zwischen frechem Darmwind und Buttersäure die Nasen strapazierte – und in den hinteren Reihen zu diversen Verdächtigungen hinsichtlich der Urheberschaft führte. Der „Asozialdarwinismus“ ist eben schon jetzt gelebte Praxis.  

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