Tidal – Abraxas (2004, Incendiary Records)

„Mit den ersten Sonnenstrahlen dieses Tages wird mir bewusst, dass es kein Morgen geben wird. Und alles, was noch kommen mag, ist jetzt an diesem Sonnentag. Und wenn nicht jetzt, auch nicht danach. Und nach der Ebbe kommt die Flut. Und alles geht weiter. Denn deine Taten schon vergangener Tage stellen dich in ihren Schatten und lassen dich erfrieren…“ – ´Timeout Deluxe´

Komplexe Klanggebilde, geräuschvoll verschachtelt und überschattet von Vocals in stetem Wechselbad zwischen deutscher und englischer Sprache, zaghaftem Flehen und verzweifeltem Geschrei – das ist TIDAL aus Heidelberg, das ist „Abraxas“. Gerade acht Songs umfasst der zweite Longplayer dieser hintergründigen Ausnahmekapelle, welche kunstvoll und individualistisch die Grenzen zwischen STANDSTILL und KATZENSTREIK verwischt. „Abraxas“ ist dreckig-noisiger Bastard und malerische Poesie zugleich, ein Vehikel abseitiger Schönheit bei offensichtlich entstelltem Antlitz, ebenso abstrakt wie der eigentümlich abgewandelte Hieronymus Bosch-Aufgriff der ideenreichen Covergestaltung.

Die weitreichenden Facetten im Schaffen des Quintetts erschließen sich erst allmählich, langsam wie unaufhaltsam zieht „Abraxas“ in den Hirnwindungen des lauschenden Geistes seine Kreise, fordert, nötigt zur unbedingten Auseinandersetzung mit den oft experimentellen, passagenweise psychedelischen Konstrukten. Eine Band, die seit 1999 Bestand hat und in dieser Zeitspanne mehr von der Welt gesehen hat, als andere Formationen in ihrer gesamten Existenz. „Abraxas“ ist die Weisheit des Abgründigen, der schlitzohrige Hurensohn, der dir mit Absicht vor der Pissrinne des Lebens ein Bein stellt, nur um dir im Anschluss genüsslich grinsend eine helfende Hand reichen zu können.

Im schlammigen Brackwasser unabhängiger Musikentfaltung verkörpert „Abraxas“ den unermüdlichen Kotklumpen, der wiederstrebend an der Oberfläche treibt, bereit sich jeden Augenblick in den blauen Himmel zu erheben, dem gleißenden Licht der Sonne entgegen. Oder wie es in „Peacemaker“ ertönt: „Ein weißer Schmetterling im Gegenlicht der Sonne. Wo sind nur all die Farben? Fesselnd und zugleich unbeweglich – lauthals tönend, die Dinge verschönernd…“

Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

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