Das erste Album nach dem kommerziellen Durchbruch bedeutet für viele Bands einen ernstzunehmenden Stresstest. Wie weit darf der Grad der Veränderung gehen, um das gerade erschlossene Publikum nicht zu verprellen? Auf der anderen Seite: Der Verzicht auf Entwicklung, ergo die Verwaltung des als Erfolgsrezept ausgemachten Sounds, wird gemeinhin als Signal des Stillstands begriffen. Diese Zwickmühle konterten GREEN DAY nach ihrem Sensationserfolg „Dookie“ (1994) mit „Insomniac“. Mancher Kritiker zeigte sich wenig begeistert. Auch die Zahl der verkauften Tonträger (in Summe brachte es die Platte in den USA und Kanada immer noch auf Doppel-Platin) blieb hinter dem Vorgänger zurück.
Kritiker? Plattenverkäufe? Bereits das veranschaulicht, wie weit das Trio von den Indie-Wurzeln ihrer beiden ersten Langspieler entfernt rangierte. Doch selbst wenn bei der Singleauskopplung „Geek Stink Breath“ mehr über das unschöne Zahnarzt-Video als den eigentlichen Song gesprochen wurde, ließen einige kritische Stimmen den wesentlichsten Aspekt vollends außer Acht: „Insomniac“ ist in Sachen punkiger Kurzweil nur schwer zu toppen. Das unterschreiben Tracks wie der Opener „Armatage Shanks“, „Brat“, „Stuck With Me“, „Bab‘s Uvula Who?“ oder das leicht melancholische „86“ bravourös. Betont rockig und trotzdem flott geht es auch beim in Hälfte eins rein instrumentalen „Panic Song“ zu. Oder dem gen Alternative tendierenden „Brain Stew“, das nahtlos in die rasante Doppelsingle „Jaded“ übergeht. Das pop-punkige Moment wird indes u. a. beim Rausschmeißer „Walking Contradiction“ klar herausgestellt.
Eins ist klar: Neu erfunden haben sich GREEN DAY hier (noch) nicht. Vielleicht ist es gerade diese betonte Fokussierung auf die originäre Essenz des GREEN-DAY-Sounds, die „Insomniac“ derart exzellent altern ließ. In der Retrospektive war der Ansatz „einfach ungeniert weiterrocken“ augenscheinlich die beste Entscheidung. Nicht zuletzt, da das Gros der 14 Tracks zwischen zwei und drei Minuten abgehandelt wird – und beständig auf den maximalen Wirkungspunkt heruntergebrochen erscheint (siehe etwa den prägnanten Bass von Mike Dirnt bei „Stuart and the Ave.“). Daher nimmt die Frage nach der Originalität bei diesem rundum würdigen Nachfolger zum Klassiker „Dookie“ auch eine bestenfalls untergeordnete Rolle ein.
Hier und da: Erweiterte Editionen
Wie so häufig im Schaffen von GREEN DAY wurde auch „Insomniac“ in verschiedenen Ländern in dezent erweiterten Versionen zugänglich gemacht: So bietet die japanische Fassung das FANG-Cover „I Want to Be On T.V.“ (später Teil der B-Seiten-Compilation „Shenanigans“, 2002), während die australische „Tour Souvenir Edition“ als Bonus eine sechs Songs starke Live-EP enthielt, die in Japan 1995 exklusiv als „Live Tracks“ veröffentlicht wurde.
Die 2021 veröffentlichte Jubiläumsausgabe zum 25. Geburtstag von „Insomniac“ bietet als Dreingabe acht Live-Tracks, die im März 1996 in Prag aufgenommen wurden: „Armatage Shanks“, „Brat“, „Geek Stink Breath“, „Stuck With Me“, „Brain Stew“, „Jaded“, „Walking Contradiction“ und „86“. Der authentische Live-Sound lässt sich dabei u. a. an den vermehrten Rückkopplungen bei „Jaded“ ermessen. Unbedingter Perfektionismus klingt definitiv anders. Gerade das trägt zum Reiz dieser Ergänzungen bei. Wer „Insomniac“ allerdings schon zu Hause hat, braucht diese Aufstockung nicht zwingend; allen voran, da „Armatage Shanks“, „Brain Stew“, „Jaded“ und „Walking Contradiction“ bereits auf der „Bowling Bowling Bowling Parking Parking“-EP (1996) veröffentlicht wurden.
Wertung: (8,5 / 10)