Die Geburtsstunde der Psychoanalyse als übersinnliche Mördersuche
Die Vermengung realer Hintergründe mit fiktionalen
Erzählstrukturen sind in der Film- und Serienkultur ein beliebtes Stilmittel.
Mit „Freud“ folgt ein weiteres deutschsprachiges Format diesem Schema, wobei
die Verortung bereits auf Basis des Titels ersichtlich wird. Denn im Zentrum
steht der berühmte Tiefenpsychologe Sigmund Freud (1856 – 1939), der bislang
wenig für Geschichten bemüht wurde, in denen Spannung und Gewalt zentrale
Elemente markieren. Die von Marvin Kren („4 Blocks“) als Co-Schöpfer und
Regisseur begleitete achtteilige Auftaktstaffel geht jedoch genau diesen
zweifelsfrei kontrastierenden Weg und verstrickt den jungen Freud, sehenswert
gespielt von Robert Finster („Prey“), in ein Komplott von weitreichender
politischer Tragweite.
Der im Wien des Jahres 1886 angesiedelte Plot zeigt Freud am Beginn seines
Werdegangs. Der aufstrebende Nervenarzt setzt auf Hypnose als
Behandlungsmethode und ist obendrein Verfechter der Theorie des
Unterbewusstseins. Von den medizinischen Kollegen, allen voran dem geachteten
Professor Meynert (Rainer Bock, „Das weiße Band“), wird er dafür verlacht. Für
die konservativen Mediziner sind Psychosen reine Hysterie. Bei ihrer Behandlung,
etwa in der von Meynert geleiteten Nervenheilanstalt, kommen etablierte
Methoden zum Tragen, die sich nah an der Folter bewegen. Doch Freud, der unter
Meynert hospitiert, lässt sich von seiner Überzeugung nicht abbringen.
Eine weitere Hauptfigur ist der aus Kriegstagen traumatisierte Inspektor Alfred
Kiss (Georg Friedrich, „Nordwand“). Als eine junge Frau bestialisch ermordet
aufgefunden wird, führen Spuren zu Georg von Lichtenberg (Lukas Miko, „Der Pass“),
einem Offizier der königlich-kaiserlichen Armee. Die beiden Männer eint ihre
gegenseitige Verachtung, was Kiss‘ Verdacht als persönlich motiviert erscheinen
lässt. Was zwischen den beiden Männern steht, erörtert Kren in Rückblicken, die
Kiss‘ innere Zerrüttung über brutale Ereignisse aus Kriegstagen lebendig werden
lassen. Durch den Mord gerät Kiss erstmals an den mittellosen Freud, der
ständig Gefahr läuft, ob der ausbleibenden Miete aus seiner Wohnung/Praxis
geschmissen zu werden.
Freud‘sche Theorien versus Umsturzfantasien
Zunächst erscheinen viele Begebenheiten beiläufig. Auch die orgiastischen Feste, die von den ungarischen Exilanten Graf Viktor von Szápáry (Philipp Hochmair, „Charité“) und seiner Gattin Sophia (Anja Kling, „Wir sind das Volk“) auf deren Anwesen organsiert werden. Fester Teil dieser ausschweifenden Abendveranstaltungen ist das junge Medium Fleur Salomé (Ella Rumpf, „Tiger Girl“), das nicht allein in der Gunst der manipulativen Gräfin steht, sondern auch in deren Bann. Freud ist von Fleur fasziniert, muss über weitere mysteriöse Bluttaten, deren Hintergründe Fleur zu erfassen scheint, aber feststellen, dass sie an einer dissoziativen Störung leidet, die sie zwei Persönlichkeiten vereinen lässt: das Medium, das mit den Toten kommuniziert, und das Táltos genannte Überwesen, das die Lebenden kontrolliert.
Es fällt nicht leicht, in diesem komplexen, künstlerisch oft bewusst überhöhten Narrativ die Orientierung zu behalten. Als große Stärken der in Kooperation mit Netflix entstandenen österreichisch-deutsch-tschechischen Koproduktion erweisen sich die plastischen Figuren und die Ausstattung, die vom beachtlichen Aufwand kündet, das Zeitkolorit des späten 19. Jahrhunderts lebendig werden zu lassen. Parallelen zur artverwandten Serie „The Alienist“ (2018 – 2020) sind durchaus gegeben. Allerdings offenbart „Freud“ über psychedelische Nuancen und teils drastische Bilder einen eigenen Charakter. Das umschließt auch die gescholtenen, partiell Zerrütteten Hauptfiguren, denen als heiteres Gegengewicht Freuds Haushälterin Lenore (Krens Mutter Brigitte, „Blutgletscher“) und Kiss‘ treuer Dienstpartner Poschacher (Christoph F. Krutzler, „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“) beistehen.
Die sich überlagernden Erzählstränge rücken Kiss nach einer Eskalation des Streits mit von Lichtenberg ins Visier von dessen Vater, Feldmarschall Franz (Heinz Trixner, „Aimee & Jaguar“), sowie dem Georg amourös zugetanen Oberleutnant Riedl (Aaron Friesz, „Hinterland“). Freud hingegen gerät durch Schlüsselfigur Fleur immer tiefer in eine von den Száparys orchestrierte Verschwörung, die über Kronprinz Rudolf (Stefan Konarske, „Das Boot“) die politische Realität der K-und-K-Monarchie auf den Kopf stellen soll. Die damit adressierte Zielgruppe ist zweifelsfrei spitzer als bei zugänglicheren serialen Unterhaltungsformaten. Wer sich auf „Freud“ einlassen kann, erlebt jedoch eine abgründige und punktuell überaus blutige Zeitreise, bei der Realität und Fiktion packend fusionieren. Fortsetzung erbeten.
Wertung: (7 / 10)