Das Wiegenlied vom Totschlag (USA 1970)

„The greatest horror of all is that it is true.” – Aus den eröffnenden Texttafeln

Der Genozid an den nordamerikanischen Ureinwohnern ist eines der abscheulichsten Kapitel in der Historie der USA. Bis die Filmindustrie zumindest ansatzweise bereit schien, die Mär vom barbarischen Wilden zu überwinden, dauerte es bis in die Ära des New Hollywood. Eines der bis heute deutlichsten Zeichen setzte Schauspiel-Ikone Marlon Brando, der, anstatt der Oscar-Verleihung 1973 persönlich beizuwohnen, als Vertreterin die indianische Aktivistin Sacheen Littlefeather entsandte. So betrat sie während der Live-Ausstrahlung die Bühne, als dem Mimen für seine Darbietung in „Der Pate“ (1972) der höchste Filmpreis verliehen werden sollte.

Die in traditionelle Kleidung der Apachen gehüllte Littlefeather überbrachte nicht allein die Botschaft, dass Brando die Auszeichnung u. a. wegen Hollywoods herabwürdigender Darstellung der Indianer ablehnte, sondern machte auch auf die Besetzung des geschichtsträchtigen Ortes Wounded Knee in South Dakota durch das American Indian Movement (AIM) aufmerksam. Für das Establishment der Traumfabrik, die sich an Western-Idole wie den eingefleischten Rassisten John Wayne klammerten – der Littlefeathers Oscar-Auftritt vehement zu unterbinden versucht haben soll –, ein handfester Skandal.

Doch bereits vor dieser Episode zeigten Filmschaffende Gesicht und verwiesen auf das blutig besiegelte Schicksal der indigenen Stämme. Neben Arthur Penns satirischem Anti-Western „Little Big Man“ buhlte in dessen Produktionsjahr 1970 eine weitere New-Hollywood-Produktion um die Aufmerksamkeit des Publikums: Ralph Nelsons „Das Wiegenlied vom Totschlag“. Regisseur Nelson, dessen „Lilien auf dem Felde“ (1963) Kinogeschichte schrieb, weil Hauptdarsteller Sidney Poitier als erster Afroamerikaner den Oscar als bester Hauptdarsteller erhalten hatte, greift darin die Ereignisse des Sand-Creek-Massakers auf, bei dem Kavalleristen 1864 mehr als 130 Indianer abschlachteten – darunter vorwiegend Frauen und Kinder. 

Auf das explizite Ende seines Films verweist Nelson bereits in den einleitenden Texttafeln. Und den Wahrheitsgehalt, selbst wenn dieser von einer Geschichte überlagert wird, die das Gewissen einer streng patriotischen Nation aus rein „weißer Perspektive“ belastet. Dass der Schlussakt auch ein halbes Jahrhundert nach seiner Herstellung krass erscheint, erteilt dem bemüht aufrüttelnden Charakter des handwerklich, erzählerisch und auch kommerziell hinter dem erwähnten „Little Big Man“ zurückgebliebenen Werk noch immer recht. Dabei soll Nelson die finalen Gräuel, die auch als bittere Anspielung auf das 1968 während des Vietnamkrieges erfolgte My-Lai-Massaker interpretiert wurden, ursprünglich deutlich ausschweifender und expliziter angelegt haben. Der rund 135-minütige Workprint wurde nach einer katastrophalen Testvorführung in Sachen Gewalt jedoch erheblich entschärft.

„Good brave lads. Comin‘ out here to kill themselves a real live injun. Puttin‘ up their forts in a country they got no claim to. So what the hell do you expect the indians to do, sit back on their butts while the army takes over their land?“ – Cresta

Bevor sich Candice Bergen („Leise weht der Wind des Todes) und Peter Strauss („Space Hunter – Jäger im All“) als ungleiches Duo über die Politik der Weißen streiten, nimmt der kurioserweise nicht für einen Oscar nominierte 70’s-Folk-Titelsong von Buffy Sainte-Marie die Verwurzelung der Erzählweise in der Hippie-Ära vorweg. Bergen mimt in der auf dem Buch von Theodore V. Olsen beruhenden Handlung Cresta Lee, die nach zwei Jahren bei den Cheyenne zu ihrem Verlobten, einem Kavalleristen, eskortiert werden soll. Teil des Geleits, das vor der Abreise in der Sonne warten muss, bis der Zahlmeister den Toilettengang beendet hat, ist auch Grünschnabel Honus Gant (Strauss). 

Der überlebt einen bald erfolgenden Indianerangriff nur mit Glück und bildet mit Cresta eine Zweierkonstellation, die unterschiedlicher kaum ausfallen könnte. Denn das starke Geschlecht repräsentiert in dieser Zweckgemeinschaft eindeutig die emanzipierte, zwischen den Kulturen zerrissene Cresta. Die spart nicht an Vulgärausdrücken und weiß genau, wer in diesen Landen die wahren Wilden sind. Entsprechend regelmäßig wird der um die Sauberkeit (und den Verbleib) seiner Socken besorgte Honus ob seiner Doppelmoral von ihr verspottet. Obendrein stempelt er die von ihr geschilderten Gräueltaten weißer Soldaten an den Indianern als propagandistische Lügenmärchen ab. Doch sein Weltbild soll sich wandeln. Auf denkbar schmerzhafte Weise.

„Raze the village! Burn this… pestilence!” – Iverson

Das zänkische Gebaren der beiden sorgt (samt romantischer Näherung) während ihrer Odyssee durch die Wildnis für ironische Spitzen. Die Chemie zwischen Bergen und dem bisweilen als Antithese des jungen Parade-Machos Clint Eastwood erscheinenden Strauss erweist sich als stimmig genug, um die erzählerische Inkonsistenz zu kaschieren. Mit episodischem Charakter verstrickt Nelson die beiden in Konfrontationen mit Kiowa-Indianern und dem kauzigen Waffenschmuggler Isaac Q. Cumber (Donald Pleasance, „THX 1138“) – um den Wortwitz zu wahren, lautet sein Name in der deutschen Fassung „Isaac B. Lemmert“.

Als Honus eine Schusswunde am Bein erleidet, macht sich Cresta allein auf, um am Zielort Hilfe zu erbitten. Dabei muss sie mit Erschrecken feststellen, dass Colonel Iverson (John Anderson, „Im Dutzend zur Hölle“) einen Vergeltungsschlag gegen die Cheyenne vorbereitet. Dass die nicht von Natives, sondern vorzugsweise von Mexikanern verkörpert werden – als Häuptling Spotted Wolf tritt Jorge Rivero („Der letzte der harten Männer“) in Erscheinung –, beschert dem grausamen Schlussakt in seiner Wirkung keinen Abbruch. Somit bleibt „Das Wiegenlied vom Totschlag“ ein nicht zwingend ausgewogenes, dafür schlussendlich unmissverständliches Mahnmal für die menschenverachtende Siedlungs- und Fortschrittspolitik des „Wilden Westens“. Ein Western, der neben der Drastik seiner Bilder vor allem im Gedächtnis bleibt, weil er partout keiner sein will.

Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

scroll to top