Das Mädchen, das die Seiten umblättert (F 2006)

das-maedchen-das-die-seiten-umblaettertDas bürgerliche Ränkespiel versteht kaum ein Regisseur besser in filmische Gewänder zu kleiden, als Claude Chabrol. Der Spiegel der Bourgeoisie, verborgen hinter doppelbödigen Thriller-Plots, machte den angesehenen Sozialkritiker weit über die Nouvelle Vague hinaus bekannt. In eben diesen Fußstapfen bewegt sich Chabrols Landsmann Denis Dercourt („Die Freiberufler“), der mit der kühlen Präzision des Meisters eine perfide Rachegeschichte spinnt. „Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ ist ein zurückhaltender, fast stiller Film, der aus der Andeutung heraus große psychologische Spannung generiert.

Als Kind wurde Mélanie Prouvosts (Déborah François, „Red Ants“) Traum einer Karriere als Pianistin jäh zerstört. Während eines Vorspielens am Musikkonservatorium brachte sie die Eitelkeit der Juryvorsitzenden Ariane Fouchécourt (Catherine Frot, „Odette Toulemonde“) derart aus dem Konzept, dass ihre Darbietung zum Debakel geriet. Für die Tochter eines Fleischers brach damit eine Welt zusammen und bedeutete gleichsam das Ende ihrer musikalischen Anstrengungen. Als sie sich Jahre später während eines Praktikums in einer angesehenen Anwaltskanzlei dazu bereit erklärt, auf den Sohn des Chefs aufzupassen, ergibt sich die Möglichkeit der Revanche.

In unscheinbaren Bildern und formaler Schlichtheit spannt Dercourt den Bogen seines intensiven Dramas. Außerhalb von Paris, am Bahnhof, begegnen sich Mélanie und Ariane wieder. Sie ist mit dem renommierten Juristen verheiratet, der Zeit seiner zunehmenden Abwesenheit Gesellschaft für den Sohn und die Gattin wünscht. Die ist nach einem Autounfall unsicher und fragil, was sich negativ auf ihre Karriere als Konzertpianistin auswirkt. Für die Zeit ihres Engagements zieht Mélanie in die feudale Villa der Anwaltsfamilie ein. Die junge Frau macht sich bald unentbehrlich, wird zu Arianes Vertrauten und wendet ihr bei einem wichtigen Radiokonzert sogar die Notenblätter.

Je näher sich die beiden Frauen kommen und je mehr Ariane den auch erotischen Avancen des Kindermädchens nachgibt, umso verletzlicher wird sie. Welche der folgenden Ereignisse jedoch spontan ihren Lauf nehmen und welche von Mélanie in der dargelegten Form geplant wurden, lässt der Regisseur offen. Die Deutung der Hintergründe bleibt dem Zuschauer überlassen. Ebenso die Wertung. Das Motiv für die Racheintrige ist klar, nur eben nicht zwingend verständlich. Die Eindringlichkeit des entschleunigten, hervorragend gespielten Thrillers macht die Abstinenz genretypischer Bestandteile vergessen. Ein kunstvoller, ein hervorragender Film.

Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

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