Open Your Mouth and Say… Mr. Chi Pig (CAN/USA/CR 2009)

In der Retrospektive sind viele Bandbiographien verklärend. Der Mensch kann eben nicht anders, als Erinnerungen in gewissem Abstand zu beschönigen. Bei Mr. Chi Pig und SNFU sieht das Ganze etwas anders aus. Natürlich gibt es auch bei der persönlichen Betrachtung der von zahlreichen Aufs und Abs geprägten Vita der kanadischen Punk-Vorreiter viel Schwelgerisches. Beschönigen lässt sich aber eben nicht alles. Festmachen lassen sich die Kontroversen am charismatischen Frontmann, der mit bürgerlichem Namen Kendall Chinn heißt. Ihm hat der unabhängige Filmemacher Sean Patrick Shaul („Alone Up There“) eine Dokumentation gewidmet, die dahin geht, wo es wehtut.

Denn Chinn, der mit Mr. Chi Pig eine Art Kunstfigur geschaffen hat, in der er seine ganze Zerrissenheit ausleben kann, hat Probleme. Viele Probleme. Die äußern sich anfangs im zerrütteten Elternhaus. Die Mutter ist Alkoholikerin, der Vater Knastbruder. Den Ausbruch wagt der in Edmonton, Alberta, aufgewachsene Ken in der Musik. Im Fernsehen sieht er irgendwann die SEX PISTOLS und weiß plötzlich, wohin ihn sein Weg führen wird. Aus lokalen Bands geht 1981 schließlich SNFU (oder in der Langform SOCIETY’S NO FUCKING USE) hervor. Der Rest ist Geschichte.

Die lässt Shaul, der neben Regie und Schnitt auch Produktion und Skizzierung besorgte, von Ken Chinn selbst erzählen. „Open Your Mouth and Say… Mr. Chi Pig“ ist ein Film über ihn und die Band, mit der er bekannt wurde – und die er bekannt gemacht hat. Mit oft absurden und doch sehr persönlichen Texten und legendären Bühnenperformances. Neben ihm kommen andere zu Wort. Freunde, Wegbegleiter, alte Bandkollegen und nicht zuletzt Ikonen wie Jello Biafra (DEAD KENNEDYS), Joey Keithley (D.O.A.) oder Brendan Canning (BROKEN SOCIAL SCENE). Sie erzählen von ihrem Verhältnis zur Band, deren Einfluss und vor allem ihrem Sänger.

Stellt man frühe Aufnahmen Chinns mit seiner (zur Drehzeit) aktuellen Erscheinung gegenüber, so mag man kaum glauben, dass es sich dabei um denselben Menschen handelt. Das Gesicht eingefallen, der Mund zahnlos, die Physis ausgemergelt. Der zwangsläufige Tribut von exzessivem Alkohol- und Drogenkonsum. Aber das ist nur eine Seite. Denn Chinn ist Schizophren und behandelte sich über Jahrzehnte selbst mit Medikamentenmixturen. Über all das spricht er vor der Kamera in schonungsloser Offenheit. Das ganze Ausmaß eines Lebens am stetigen Abgrund kann ein Film von 97 Minuten Länge allerdings nur bedingt abbilden.

So bleibt es bei einer faszinierenden Nacherzählung der Bandgeschichte mit Fokus auf ihren sympathischen Frontmann. Die Anfänge, die Alben, der Legendenstatus. Ihm folgt 1989 die erste Auflösung. Der homosexuelle Chinn geht nach Vancouver, wo er von Crystal Meth abhängig wird und seine Zähne verliert. Zwei Jahre später rauft sich die Band wieder zusammen, erhält in der Folge einen Vertrag bei Epitaph und zementiert ihren Klassikerstatus. Dauerhafter Erfolg bleibt planbar, das Verhalten von Mr. Chi Pig nicht. Es kommt über die Jahre zum endgültigen Zerwürfnis zwischen ihm und Gitarrist Marc Belke, der einen Großteil der Musik geschrieben hat. Er ist einer der wenigen, die sich nicht vor der Kamera äußern wollten.

Als klassische Talking Heads-Doku wird auf Off-Erzählungen komplett verzichtet. Die Geschichte wird durch die beteiligten Zeitzeugen lebendig. Mehr als ein paar unterstützende Aufnahmen vergangener Tage braucht es daneben nicht. Bestimmte Entwicklungen werden zudem über Texteinblendungen veranschaulicht. Am Ende, nach Obdachlosigkeit und Todessehnsucht, kämpft sich Ken Chinn zurück. Vor allem auf die Bühne. Die 2007 vollzogene Wiederbelebung von SNFU mit alternativer Besetzung wird von einigen der namhaften Interviewten durchaus kritisch betrachtet. Aber wer will Mr. Chi Pig sein Lebenselixier verwehren? Denn nur in der Musik findet der liebenswerte Lebenskünstler den nötigen Halt. Der Film jedenfalls errichtet der ewigen Rampensau ein witziges, ein trauriges, ein schlicht würdiges Denkmal.

Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

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