No Mercy (ROK 2019)

Ein Mädchen verschwindet. Im internationalen Genre-Kino ist dieser Aufhänger keine Seltenheit. Meist mündet er in einen gnadenlosen Feldzug gegen Beteiligte und Mitwisser. Auch „No Mercy“ scheint diesem Weg in archetypischer „Taken“-Manier zu folgen. Doch auch wenn sich Tiefgang rarmacht, bemüht sich Regisseur Kyeong-taek Lim (Produzent von „The Doll Master“) – vorrangig in Hälfte zwei – um eine abgründige, schlussendlich gar nihilistisch angehauchte Abwandlung des standardisierten Plot-Gerüsts. Freunde ruppiger Actioneinlagen muss das mitnichten abschrecken.

Nach eineinhalb Jahren Gefängnis wird Personenschützerin In-ae (Si-Yeong Lee, „The Divine Move“) auf freien Fuß gesetzt. Die Freude über die Wiedervereinigung mit ihrer geistig behinderten jüngeren Schwester Eun-hye (Se-wan Park) währt jedoch nur kurz. Denn als die von drei Mitschülerinnen drangsaliert und einem Trio von Klein-Gangstern zugeführt wird, die Freier mit der minderjährigen Zwangskomplizin erpressen, beginnt für die Teenagerin eine traumatisierende Odyssee. Als In-ae das Verschwinden bemerkt und bei Lehrkörper und Polizei auf taube Ohren stößt, nimmt sie die Sache mit gebotener Kompromisslosigkeit selbst in die Hand.

Den toughen Hintergrund In-aes, der einschließlich ihrer hervorragenden Reputation lediglich in einzelnen Halbsätzen Erwähnung findet, braucht der Film allein, um seine unscheinbare Hauptfigur mit dem nötigen körperlichen Rüstzeug auszustatten. Dass es nicht an Willen und Skrupellosigkeit mangelt, veranschaulicht bereits der stilisierte, digital polierte Auftakt, bei dem ein Mustang mit röhrendem Motor über die Straßen brettert. Vor einer Autowerkstatt steigt In-ae in einem wehenden roten Kleid aus und schwingt einen Vorschlaghammer. Die Blessuren an ihrem Körper offenbaren dabei, dass dies nur eine Station ihrer zunehmend brutalen Suche nach Eun-hye ist.

Wie im asiatischen Film üblich, stehen sich auch in „No Mercy“ Szenen von elegischer Ruhe und ruppiger Gewalt gegenüber. Die Emotionalität wirkt anfangs allerdings alibihaft, die Dramaturgie der Geschichte zudem schlicht und mit einem Blick überschaubar. Doch so leicht, wie es zunächst den Anschein hat, macht es Kyeong-taek Lim dem Zuschauer nicht. Während Eun-hye über den soziopathischen Geschäftsmann Sang-man Ha (Hyeong-cheol Lee, „Voice of a Murderer“) weitergereicht und -verkauft wird, bis sie letztlich beim mit ihr und In-ae schicksalhaft verbundenen Kongressabgeordneten Park (Jin-ho Choi, „Gangnam Blues“) landet, offenbart sich über Rückblicke die bittere Erkenntnis, dass Eun-hyes Martyrium nicht erst mit ihrer Verschleppung begann.

Die Stärke des Films liegt im Subtext: In unvermittelten, teils heftig inszenierten Schlägereien mischt die resolute, am Ende, im Kampf gegen viele, deutlich vom selten homogenen Drehbuch geschützte In-ae ein patriarchales System der Grausamkeit auf. In dem pochen Männer, ungeachtet von sozialem Rang und Status, auf das Hirngespinst eines Grundrechts, Frauen nach Belieben benutzen und missbrauchen zu können. Über ein Gewissen scheint einzig Parks Bodyguard (Joon-hyeok Lee, „Hide and Seek“) zu verfügen. Doch auch er kann die finale Eskalation nicht verhindern. Ein Meisterwerk ist die bedingt glaubhafte, immerhin aber ansprechend umgesetzte und auch gespielte Antithese zum Macho-Actiontum Hollywoods kaum. Auf ihre Weise sehenswert ist sie trotz aller Schwächen dennoch.

Wertung: 6 out of 10 stars (6 / 10)

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