Gangs of London (Series 1) (GB 2020)

Wenn Gareth Evans an der Konzeption und Umsetzung einer Serie beteiligt ist, darf vor allem eines erwartet werden: heftige Gewalt. Deren spektakuläre Inszenierung hat der gebürtige Waliser in Indonesien mit den beiden „The Raid“-Filmen zur Perfektion geführt. Nun also „Gangs of London“, ein komplexes Thriller-Drama im elitären Verbrechermilieu, bei dem kein Körper unversehrt und kein Stein auf dem anderen bleibt.

Anstoß der Geschichte ist die Ermordung von Finn Wallace (Colm Meaney, „Hell on Wheels“), Vorstand eines Unterwelt-Imperiums, das in London sämtliche Zügel in der Hand hält. Ohne das Wissen, ohne die Zustimmung der Familie Wallace geschieht in Englands Kapitale nichts. Entsprechend tief sitzt der Schock, als Finn im albanischen Viertel unbemerkt von Brit-Nomade Darren (Aled ap Steffan, „In My Skin“) erschossen wird. Der allerdings glaubte, das der von unbekannter Hand orchestrierte Auftragsmord einen kleinen Fisch treffen würde, nicht aber den gefürchteten Big Boss.

Aus dieser Prämisse entfaltet sich ein Mahlstrom besonderer Güte. Zugegeben, mehr inszenatorisch als erzählerisch, aber dennoch mit Wucht und Intensität. Am Anfang steht die Rache, getragen von Finns Sohn Sean (Joe Cole, „Peaky Blinders“) und seiner nicht minder getriebenen Mutter Marian (Michelle Fairley, „Game of Thrones“). Vor allem Sean, der Verbündeten und Partnern beweisen muss, dass die Organisation auch mit ihm an der Spitze auf sicheren Füßen steht, scheint jedes Mittel recht, um das Attentat zu sühnen. Zur Vernunft mahnt hingegen Ed Dumani (Lucian Msamati, „Taboo“), Finns angestammter Partner und integraler Teil des Wallace-Klans.

Shakespear’sche Tragik trifft splattrige Action   

Das Geflecht aus Figuren und Erzählsträngen ist vielschichtig. Um Realismus geht es Evans dabei nicht. Im Vordergrund steht die Unterhaltung, deren Fundament aus Shakespeare’scher Tragik, einem stetig vergrößerten Betrachtungskreis und kunstvoll übertriebener Gewalt besteht. Hier ergeben sich durchaus zarte Parallelen zu „Game of Thrones“. Übersichtlich gestaltet sich der Kreis der Protagonisten und Antagonisten kaum. Auf Seiten der Gangster, die verschiedene Viertel und/oder Geschäftsbereiche beherrschen, erhalten der Albaner Luan Dushaj (Orli Shuka, „Hyena“), die Kurdin Lale (Narges Rashidi, „Die Spezialisten – Im Namen der Opfer“) und ihr Konkurrent Asif Afridi (Asif Raza Mir), dessen Sohn Nasir (Parth Takerar, „Brassic“) als Bürgermeister von London kandidiert, wesentliche Bedeutung.

Widerstand regt sich, als Sean sämtliche kriminellen Geschäfte einfriert, bis der Tod seines Vaters ergründet ist. In der daraus resultierenden Unruhe empfiehlt sich Elliot Finch (Sope Dirisu, „Humans“), Handlanger des unbedeutenden Klein-Gangsters Jim (mit kurzem Gastspiel: „Harry Potter“-Hausmeister David Bradley), für höhere Aufgaben. Ohne sich zu schonen avanciert Elliot zum unschätzbaren Verbündeten der Wallaces – und beginnt in diesem Zuge eine heimliche Affäre mit Eds Tochter Shannon (Pippa Bennett-Warner, „Harlots“). Was jedoch niemand ahnt: Der bullige, durch den Tod seiner Familie schwer traumatisierte Fels in der Brandung ist ein Undercover-Cop.

Um das Verwirrspiel um die Hintergründe von Finns Ermordung auf die Spitze zu treiben, macht ein Killerkommando unter Führung von Söldner Leif Hansen (Mads Koudal, „Merantau“) die Organisation zum Ziel einer Anschlagsserie. Mehr noch hält Hansen die junge Floriana (Arta Dobroshi, „Late Bloomers“) gefangen, die schwangere Geliebte des ermordeten Finn. Und auch die zwecks Geldwäsche von Eds Sohn Alexander (Paapa Essiedu, „Press“) mit dem undurchsichtigen Jevan Kapadia (Ray Panthaki, „Marcella“) aufgezogenen Immobilien-Bauprojekte dienen als Zeichen einer Dimensionierung, die über bloße Unterweltkonflikte oder persönliche Rachemotive wesentlich hinausreichen.

Erst Gangster-Drama, dann Verschwörungs-Thriller

Die neun Episoden, neben Evans von Xavier Gens („Frontier(s)“) und Corin Hardy („The Nun“) realisiert, lassen die aufbrechenden Konflikte kontinuierlich in zeigefreudiger Gewalt eskalieren. In schonungslos direkter Manier werden Körper, bisweilen in extremer Zeitlupe, bis zum Äußersten traktiert, sei es nun bei wüsten Schlägereien oder Schusswechseln. An grafischen Szenen wird nicht gegeizt, wobei die fünfte – und inszenatorisch spektakulärste – Folge, in der das Schicksal des untergetauchten Darren und seinem Vater, dem „Gypsie“-Anführer Kinney (Mark Lewis Jones, „Carnival Row“), furios aufgezeigt wird, als Mini-Actiongewitter wahrlich Maßstäbe für die Explikation von Serienproduktionen setzt.

Ähnliche Eindrücke, wenn auch mehr ins episodische Geflecht der Reihe integriert, hinterlässt Luans blutig potenzierter Streit mit seinem geprellten afrikanischen Geschäftspartner Mosi (Richard Pepple, „Beasts of No Nation“). Die stückweise Zerrüttung der Wallaces findet ihre hauptsächliche Entsprechung in der Entwicklung von Seans im Abseits stehenden Geschwistern, dem homosexuellen Junkie Billy (Brian Vernel, „The Last Kingdom“) und der insbesondere von Marian entfremdeten Krankenschwester Jacqueline (Valene Kane, „The Other Guy“). Gerade sie zeigen in ihrer plastischen Darstellung die relative Eindimensionalität Seans und – zumindest anfangs – Marians auf.

Gegen Ende, wenn Familiengeheimnisse gelüftet sind, Elliot um seine Enttarnung als Spitzel fürchtet und die Hintergründe des einleitenden Mordes auf einen Urheber mächtiger politischer Tragweite schließen lässt, schafft Evans Raum für Entwicklungen, die sich von der Anlehnung an klassische Gangster-Geschichten zunehmend absetzen. Diese Veränderung des narrativen Schwerpunkts sollte „Gangs of London“ in der bereits bestätigten Fortführung neue Möglichkeiten eröffnen – und die packende, teils überragend (und gleichsam überhart) gestaltete Reihe zusätzlich an Profil gewinnen lassen. Einem modernen Serienklassiker, und fußt er auch noch so deutlich auf bekannten Mustern, sollte damit nichts im Wege stehen.

Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

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