Es dürften kaum Zweifel daran bestehen, dass „Das Dschungelbuch“ zu den ganz großen Disney-Klassikern zählt. Allerdings variiert der Status der 1967 veröffentlichten, sehr freien Zeichentrick-Adaption des 1894 erstverlegten Literaturklassikers von Rudyard Kipling, je nach Region. In den USA war der Streifen entgegen negativer Kritikermeinungen zwar ein gewaltiger finanzieller Erfolg, der insgesamt überschaubare popkulturelle Nachhall lässt sich jedoch u. a. daran ermessen, dass in Übersee bis heute nur wenige Merchandise-Produkte zum Thema angeboten werden. Anders stellt sich die Lage in Deutschland dar: Über die Jahrzehnte, auch bedingt durch Wiederaufführungen im Kino, avancierte der 19. abendfüllende Disney-Trickfilm zum besucherstärksten Hollywood-Werk überhaupt. Schätzungen belaufen sich hierzulande auf mehr als 27 Millionen Zuschauer*innen.
Ein wesentlicher Faktor des mit dem Stoff verknüpften Kult-Status dürfte die hervorragende deutsche Synchronfassung sein – und natürlich die Zeitlosigkeit von Songklassikern wie „Probier’s mal mit Gemütlichkeit“ (die Originalversion wurde für einen Oscar nominiert) oder „Ich wäre gern wie du“. Die, in der Hauptsache geschrieben von Richard M. und Robert B. Sherman, transportieren die charakteristische Leichtigkeit der Geschichte meisterlich. Zugleich sind sie Ausdruck der Einflussnahme, die Walt Disney selbst auf den Film gehabt haben soll. Wie es heißt, war der Firmenchef, der verstarb, noch bevor die Produktion abgeschlossen war, gegen die ursprünglich werkgetreu (respektive düster) angedachte Tonalität und machte seine Entscheidungskraft geltend, um das Projekt allgemein zugänglicher zu machen.
Damit widerstrebte Disney auch den vorangegangenen Verfilmungen, der US-Real-Adaption von Zoltan Korba („Das Dschungelbuch“, 1942) sowie der russischen Trickfilm-Version von Roman Dawydow („Das Dschungelbuch – Die Abenteuer des Mowgli“, 1966). Natürlich fußt das Erfolgsrezept der Disney-Interpretation von Kiplings Coming-of-Age-Abenteuer einmal mehr auf Verniedlichung, ergo putzigen Tierfiguren mit menschlichen Wesenszügen. Herausragend geht diese Rechnung beim naiven Faulpelz Balu (gesprochen von „Benjamin Blümchen“-Sprecher Edgar Ott) und Affenkönig Louie auf, zwei der Geschöpfe, denen Menschenkind Mogli auf seiner Reise durch den Urwald begegnet. Die wird erforderlich, als das unter Wölfen aufgewachsene Findelkind mit zehn Jahren zu einer Menschensiedlung gebracht werden soll. Ziel ist es, Mogli vor dem gefährlichen, Tiger Shir Khan (im Original gesprochen von Oscar-Preisträger George Sanders, „Alles über Eva“) zu schützen.
Doch Mogli ist mit dem Plan seines Schutzpatrons, dem Panther Baghira, nicht einverstanden und büxt aus. Dabei begegnet er nicht nur dem mit hypnotischen Kräften ausgestatteten Riesen-Python Kaa, sondern auch dem Müßiggang predigenden Bären Balu. Dessen Sorglos-Philosophie ebnet den komödiantischen Grund der Geschichte und bildet obendrein einen herrlich naiven Kontrast zur durch Baghira verkörperten Besonnenheit. Um die Reise zur Menschensiedlung (oder besser: ihre von Balu getriebene Verweigerung) ereignisreich zu bestücken, treffen die Freunde auch auf ein von Colonel Hathi (mit der deutschen Stimme des bekannten Sprechers Martin Hirthe, der u. a. Bud Spencer die Stimme lieh) militärisch geführtes Elefantenrudel (dass Elefanten eigentlich in matriarchalen Sozialgefügen leben, dürfte dem Gesellschaftsbild der Produktionsära zuwidergelaufen sein) sowie ein Geier-Quartett mit Beatles-Anmutung. Zu Sprechrollen der britischen Pop-Pioniere kam es jedoch nicht, so dass die Gesangnummer „Deine Freunde“ zum Barbershop-Stück wurde.
Die Rasanz der von Wolfgang Reitherman(n) („Aristocats“) verantworteten Inszenierung findet ihren Höhepunkt in der Befreiung des verschleppten Mogli aus King Louies Affenstadt. Der kontinental völlig falsch verortete Orang-Utan wäre so gern wie ein Mensch und wüsste mehr noch am liebsten über das Geheimnis des Feuers Bescheid. Die Rettungsaktion von Balu und Baghira besiegelt nicht allein den Untergang der von den Affen beherrschten Ruinenstadt, sondern mündet auch in turbulente Verfolgungsjagden, die der anarchischen Manier eines Tex Avery („Bugs Bunny“) entsprechen. In diesem Zuge muss schließlich auch Balu erkennen, dass die Wildnis nicht den richtigen Ort für Mogli markiert. Doch vor dem Ende der Reise steht noch die Konfrontation mit Shir Khan, der mit seiner gewählten, nahezu aristokratischen Ausdrucksweise eine Blaupause für die Figurierung ambivalenter Schurken markiert. Auch das stützt – nicht allein in Deutschland – den Status eines wahrhaft unvergesslichen Trickfilm-Klassikers.
Wertung: (8,5 / 10)