04.04.2020 – Kotzreiz / Vizediktator – Berlin, Cassiopeia (Streaming-Konzert)

Es hätte auch ohne Streaming-Angebot ein Abend live-musikalischer Ausschweifung werden sollen. Einer mit NO FUN AT ALL und den SATANIC SURFERS in Köln. Aber wenn die Corona-Krise die Welt aus den Angeln hebt, sind Entbehrungen wie diese noch das kleinste Übel. Anstatt mit dem Auto auf die andere Rheinseite überzusetzen, ging es also via Internet nach Berlin, genauer ins gute alte Cassiopeia. Müßig zu erwähnen, dass auch der Friedrichshainer Club jeden gespendeten Euro gut gebrauchen kann. Die von der Bühne übertragene Record-Release-Show von KOTZREIZ kam da gerade recht – und lockte in der Spitze mehr als 500 Zuschauer vor diesen oder jenen Bildschirm.

Statt mit Musik begann die Veranstaltung mit Rahmenprogram: Zunächst hielt Club-Vorsteher Tomba eine Rede, in der er die Herausforderungen der aktuellen Gegebenheiten für (sub-)kulturelle Angebote hervorhob. Anschließend folgte ein Interview mit VIZEDIKTATOR. Bevor diese die Stage in Beschlag nahmen, rückten sie ein Thema ins Bewusstsein, das in gegenwärtigen Diskussionen um Klopapier-Hamster und Versammlungsverbote gern vergessen wird: Das Schicksal tausender Geflüchteter, die unter menschenunwürdigen Bedingungen im Auffanglager Moria auf Lesbos im Stich gelassen werden. Die „Sollbruchstellen des Kapitalismus“ erscheinen der EU und ihren lediglich in Wirtschaftsfragen solidarischen Mitgliedsstaaten aktuell als willkommener Vorwand, um das Elend an der Außengrenze (und darüber hinaus) zu ignorieren.     

Einleitungsrede? Interview? Ein Hauch von „Rockpalast“ wehte durchs Cassiopeia. Was fehlte, war die Musik. Doch die kam. Und wie. VIZEDIKTATOR hatten zunächst zwar technische Probleme – viele Zuschauer aufgrund der vermehrt stockenden, während der Umbaupause gar komplett streikenden Übertragung ebenso –, lieferten aber eine Show, die mit einem Wort als famos bezeichnet werden muss. Ihr politischer Indie-Punk, der neben starken Texten durch lässig rockige Abstecher packt, spart nicht an Hitpotential. Den Beweis lieferten die Berliner u. a. mit „Bülowstraße“, „Kreuzbergs Scherben“, „Wölfe“, „Stadt aus Gold“, „Stimme der Verfolger“ und „Halleluja“. Auch über den Screen ein echter Knallerauftritt.     

Die folgende Pause wurde mit DJ und Visuals sowie besagtem Stream-Absturz gefüllt. Nachdem die technischen Querelen behoben waren, wurde es Zeit für Drei-Akkorde-Vollgas-Punk. KOTZREIZ, die ihr drittes Album „Nüchtern unerträglich“ vorstellten, hatten offenkundig mächtig Bock. Ob mit, ob ohne sichtbares Publikum. Scheißegal. Hauptsache den „Zuhause-Pogo“ zum Gebot der Stunde stempeln und Songs in den Äther grölen, die volltrunken zwischen Parodie und Weisheit taumeln. Eben solche wie der Titeltrack der neuen Platte, „Wer ist wieder da“ (natürlich zu Beginn), „MScheisstag“, „Ratten im System“, „Pfeffi Graf“, „Bauarbeiter stürb“, „Punkboys Don’t Cry“, das von PESTPOCKEN-Sängerin Andrea begleitete „Der räudige Aal“ oder „Punk bleibt Punk“. Dazwischen gab es Schampus. Der Neuveröffentlichung wegen.

Nach der Vorstellung wurden auch KOTZREIZ zum Interview gebeten. Das kennt man sonst nur aus dem Kino, wenn Filme in Anwesenheit der Macher gezeigt werden. Dabei wollten die im Netz per Zuschauerspende erstandenen Whiskey-Cola-Gedecke verköstigt werden. Da weiß man immerhin direkt, wo sein Geld landet. KOTZREIZ spendeten ihren Anteil vom Erlös der Seenotrettung im Mittelmeer. Ein eingespieltes Kapitäns-Video unterstrich noch einmal den Ernst der Lage. Nicht nur aufgrund solcher Messages war es – nicht allein für die anwesende Rumpfbesetzung des Cassiopeia – ein großartiger Konzertabend. Wenn auch einer, der schlicht einen anderen Rahmen verdient gehabt hätte. Aber auch diese Krise wird irgendwann vorübergehen.

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