Es ist ein sonniger Montagmorgen in der beschaulichen US-Kleinstadt Paradise, Arizona. Nichts deutet auf eine Trübung dieses Idylls hin. Bis der Postal Dude, angetrieben von der gestrengen Stimme seiner Gattin, aus dem heimischen Wohnwagen steigt. Seine Aufgaben (und damit die des Spielers) scheinen simpel: Den Gehaltsscheck abholen, selbigen einlösen und im nahen Supermarkt Milch kaufen. Was kann da schon schief gehen? Sieht man von den gereizten Einwohnern, den sich im Untergrund zusammenrottenden Taliban-Kämpfern oder militanten Gegnern gewaltverherrlichender Computerspiele ab sicher herzlich wenig.
Die Message von „Postal 2“ ist klar: Gewalt gehört auf den Computerbildschirm und nicht in die reale Welt! Verfechter der Katharsistheorie, nach der Mediengewalt vorhandene Gewalttendenzen abbauen kann, dürften sich bestätigt fühlen. Grundlegend anders sehen das die Jugendschützer, die das Game hierzulande ohne Umschweife indizierten. Sicher nicht zu Unrecht, denn streng genommen ist der gnadenlos überspitzte Ego-Shooter tendenziell menschenverachtend. Aber, und genau dort liegt die satirische Cleverness, die Entscheidung von Gewaltanwendung und Barbarei liegt (meist) beim Spieler und nicht in der bedingenden Vorgabe der Spielgestaltung.
Mit Möglichkeiten geizen die Programmierer von Runing With Scissors wahrlich nicht. Genau genommen pissen sie buchstäblich auf Anstand und Moral. Zumindest potentiell. Schließlich kann der Spieler die vor ihm liegenden Aufgaben (verteilt auf fünf Werktage) je nach Gusto (relativ) friedlich bewältigen oder aber ein Massaker apokalyptischen Ausmaßes über Paradise bringen. Die Ideenfülle dieser grotesken, subversiven und politsatirischen Spielwelt kennt weder Scham noch geschmackliche Grenzen. Der das Spielgeschehen kommentierende Postal Dude kann frei von Barrieren durchs Stadtbild streifen, jedes Haus betreten und mit jeder computergesteuerten Figur „interagieren“.
Mit dem Spaten lassen sich die programmierten Zeitgenossen verprügeln oder sogar köpfen, Elektroschocker und Benzinkanister laden zu perversen Foltereskapaden ein und die umherstreunenden Katzen können als Schalldämpfer für verschiedene Feuerwaffen missbraucht werden. Heilig ist bei „Postal 2“ nichts und niemand. Die schießwütige Polizei schon gar nicht, deren Ämter mit gekaufter (oder im Präsidium entwendeter) Uniform zum Missbrauch einladen. Im örtlichen Einkaufszentrum tritt im Wochenverlauf auch Schauspieler Gary Coleman auf, um Krotchy, eine Spielzeugpuppe in Form eines Hodensacks zu propagieren.
Grafisch ist das 2003 vorgestellte Spiel, bei dem allein die Werbeplakate einen verschmitzten Blick wert sind, wahrlich nicht die Spitze des Machbaren. Im Vordergrund steht aber auch nicht technische Perfektion, sondern enthemmt fragwürdiger Zeitvertreib, der neben urin- und blutbesudelter Verrohung aber mit zynischem Augenzwinkern auf die soziopolitische Gegenwart herabblickt. Die ins zugegeben recht monotone Spielgeschehen integrierte Wahl erinnert an den ersten Sieg von George W. Bush im Jahr 2000 und neben Terrorangst wird auch die Waffenlobby aufs Korn genommen. Der hemmungslose Shooter wird so zur bitterbösen Abrechnung mit moralischer Heuchlerei.
Die Steuerung ist simpel, die Möglichkeiten der Agitation ähnlich „Grand Theft Auto“ schier grenzenlos. Lebensenergie kann durch Nahrung oder Crackpfeifen (!) zurückgewonnen werden. Am Ende der Woche, wenn der Postal Dude seine Aufgaben im apokalyptischen Regen vom Himmel fallender Katzen bewältigt hat, kehrt in Paradise zumindest kurzzeitig wieder Ruhe ein. Von langer Dauer ist die Dank der 2005 nachgelegten Erweiterung „Apocalypse Weekend“ – mit geradlinigerem Spielverlauf, noch mehr Terroristen und Horden von Zombies, denen sich mit Machete oder Sense sämtliche Gliedmaßen abschlagen lassen – allerdings nicht. Im Gesamtkontext ist „Postal 2“ ein derber Affront gegen Anstand und Moral, in seiner konsequenten Übersteigerung aber ein enthemmtes Vergnügen mit diskussionswürdigem Gewaltanteil.