Visitor Q (J 2001)

visitor-qNicht wenige der Werke von Takashi Miike („Ichi the Killer“) sind von der puren Lust am Tabubruch getrieben. Dass sich dies nicht zwangsläufig in der Darstellung enthemmter Gewalt äußern muss, belegt „Visitor Q“, der als Teil der experimentellen Filmreihe „Love Cinema“ für umgerechnet weniger als 100.000 Dollar gedreht wurde. In seinem Beitrag zur Serie über die reine Liebe nimmt Miike familiäre Werte ins Visier und seziert das heiligste soziale Gefüge mit genüsslicher Grenzüberschreitung. Die ist geprägt von Emotionslosigkeit, häuslicher Gewalt und Inzest. Heilig ist Miike nichts. Gerade das macht den radikalen Affront gegen tradierte Werte so einzigartig, unberechenbar und zugleich schwer verdaulich.

Der konsequente Trip in den Wahnsinn beginnt mit verwackelten Handkamerabildern. Reporter Kiyoshi Yamazaki (Ken’ichi Endô, „Gozu“) will die ziel- wie zügellose Auslebung von Sex und Gewalt durch japanische Jugendliche dokumentieren. Doch die junge Frau, deren Avancen er sich in einem Hotelzimmer nur kurzzeitig erwehrt, ist seine Tochter Miki (Fujiko). Doch auch der Rest der Familie scheint verloren: Die sich für ihren Heroinbedarf prostituierende Mutter Keiko (Shungiku Uchida, „Nightmare Detective 2“) wird von Sohn Takuya (Jun Mutô) wegen jeder noch so unbedeutenden Kleinigkeit malträtiert, gedemütigt und durchs Interieur geprügelt. Es ist seine Antwort auf die Ausgrenzung und den permanenten Terror durch eine Gruppe Mitschüler.

Um Japans Gesellschaft ist es nicht gut bestimmt. Zumindest, wenn man Miikes verstörende Low Budget-Groteske als Maßstab nimmt. Moralische Grenzen werden aufgehoben, übrig bleiben Triebsteuerung und Gleichgültigkeit. Dabei wirkt „Vistor Q“ wie die Hardcore-Variante der Satire „Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb“. Katalysator der unvermeidlichen Zuspitzung ist der namenlose Besucher (Kazushi Watanabe, „Captain Tokio“), der Kiyoshi gleich mehrmals mit einem Stein attackiert. Also nimmt er den jungen Mann mit nach Hause und quartiert ihn unter seinem Dach ein. Mit dem Unbekannten werden die Aktionen der Familienmitglieder zunehmend extremer und entarteter. Umso erstaunlicher erscheint da, dass sie durch ihn letztlich wieder ins Gleichgewicht finden.

Über launige Dysfunktionalität, wie sie insbesondere in amerikanischen Sitcoms zelebriert wird, reicht Miikes irrwitziger Schocker weit hinaus. Vor allem das Schlussdrittel muss man gesehen haben, um es zu glauben. Zu all den Verfehlungen – und aus Mutters Brustwarzen sprudelnder Milch – kommen noch Vergewaltigung, Mord und Nekrophilie (einschließlich einsetzender Leichenstarre!) hinzu, als Kiyoshi über die filmische Dokumentation der Leiden seines Sohnes die eigenen Gefühle zu ergründen sucht. Für zartbesaitete Zuschauer und gleichwohl solche, die sich kaum abseits der heilen Hollywood-Welt bewegen, mag der Film anmuten wie ein perverser Affront. Weit entfernt ist er davon wahrlich nicht, aber das überspitzte Kalkül, mit dem Miike vor den Kopf stößt, ist schlichtweg brillant.

Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

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