Tagebuch eines Skandals (GB 2006)

tagebucheinesskandalsMind the Gap.

In der Londoner Untergrundbahn mahnt der Zuruf vom Tonband zur Achtsamkeit auf die tückische Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante. Im Leben, so Lehrerin Sheba Hart, bedeutet er die Diskrepanz zwischen dem, der man ist und dem, der man seinen Träumen entsprechend hätte sein sollen. Die hinter solch schwermütig selbstanalytischer Erkenntnis stehende Bitterkeit ist Ausdruck verpasster Möglichkeiten. Was wäre wenn? Ja, was wäre wenn Sheba nicht ihren weit älteren Universitätsprofessor geheiratet hätte, der gemeinsame Sohn nicht am Down-Syndrom erkrankt wäre oder sie selbst nicht ständig im Schatten ihres verstorbenen Vaters stünde?

Solcher Stoff steht gemeinhin für großes Schauspiel. Cate Blanchett („Babel“), die jene von Einsamkeit umwehte Pädagogin verkörpert, wurde für ihre Leistung zu Recht für den Oscar nominiert. Wenn auch als beste Nebendarstellerin. Denn so wichtig diese Sheba Hart auch ist, der für den Verlauf der Geschichte entscheidendere Charakter ist ihre mütterliche Kollegin Barbara Covett, die über im Off wiedergegebene Tagebucheinträge durch die Ereignisse führt. Deren Part scheint einmal mehr wie geschaffen für Judi Dench („Shakespeare in Love“), der in der Hauptrolle verdientermaßen ihre sechste Oscar-Nominierung in neun Jahren zuteil wurde. Regie führte, wie schon bei Denchs Galavorstellung „Iris“, Richard Eyre.

Sein meisterliches Psycho-Drama „Tagebuch eines Skandals“ ist die Adaption von Zoe Hellers gleichnamigem Roman. Dessen Mittelpunkt ist die Freundschaft zwischen den beiden Frauen, die sich auf Seiten Barbaras zunehmend in Obsession verwandelt. Als sie bemerkt, dass Sheba sexuelle Kontakte mit einem ihrer Schüler pflegt, glaubt sie ihre heimliche Liebe über die Ausübung von Druck an sich binden zu können. Als ihrem Drängen, die ungesetzliche Liaison zu lösen, nicht entsprochen wird, lässt Barbara die Bombe über das Streuen eines Gerüchts platzen. Mit entscheidenden Konsequenzen für alle Beteiligten.

Überraschend schnell, jedoch nie überhastet, schildert Eyre die zunehmende Abhängigkeit der beiden Frauen von Fantasievorstellungen als Wirklichkeitsflucht. Das erzählerische Tempo schafft im Zusammenspiel mit dem Thriller-haften Score von Philip Glass („The Hours“) konstante Spannung, was nur vordergründig auf Kosten charakterlicher Vielschichtigkeit geht. Viele für die Entwicklung wichtige Facetten im Leben der Protagonisten werden spät oder nur am Rande angedeutet, was bestimmte Motive nicht auf Anhieb schlüssig erscheinen lässt, nachhaltig aber das fesselnde Profil einer destruktiven Beziehung komplettiert. Nicht leicht, aber großartig.

Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

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