In sich gekehrt sitzt Juliette in einem Flughafencafé und raucht. Ihre Blicke streifen ziellos durchs Nirgendwo. Wenig später wird sie abgeholt, von ihrer herzlichen Schwester Léa. Bei ihr und ihrem Mann wird sie wohnen, in einem großen Haus, im Kreis einer Familie. 15 Jahre saß sie im Gefängnis. Wegen des Mordes an ihrem sechsjährigen Sohn. Die Eltern verboten der jüngeren Léa jeden Kontakt. Für sie war ihre älteste Tochter nur mehr ein trauriger Nachhall, eine verdrängte Erinnerung. Die Näherung fällt schwer. Der Weg zurück in eine geregeltes Leben noch viel schwerer.
„So viele Jahre liebe ich dich“ trieft lediglich im Titel vor Kitsch. Denn Philippe Claudels Regiedebüt erweist sich als behutsam und den Figuren gegenüber respektvoll inszeniertes Drama, in dem Kristin Scott Thomas („Gosford Park“) als Juliette zu Höchstform aufläuft. Meist ungeschminkt, mit fahlem Teint und zusammengepressten Lippen, kostet es sie sichtlich Kraft, in die entwöhnte Normalität des Alltags außerhalb von Gefängnismauern zurückzukehren. Die Unvoreingenommenheit der Schwester hilft. Für eine Öffnung jedoch ist die Zeit nicht reif.
Die Langsamkeit der Entwicklung wird durch den schleichenden Erzählrhythmus gestützt. Auch dem Zuschauer wird die Näherung an Juliette nicht leicht gemacht, deren spröder Schutzwall erst am Schluss Risse zeigt. Die Verdrängungslogik der Eltern lässt Léa, nicht minder überzeugend gespielt von Elsa Zylberstein („Diese Nacht“), hinter sich und begegnet der Schwester mit großem Vertrauen. Auch im Umgang mit den beiden Adoptivkindern, was Léas Ehemann Luc (Serge Hazanavicius, „Bella ciao“) mit großer Sorge registriert.
Überhaupt räumt Claudel den Reaktionen anderer Menschen auf die verurteilte Mörderin gebührenden Raum ein. Doch sind nicht alle von Entsetzen und Abscheu geprägt. Der redselige, vom Leben enttäuschte Inspektor (Frédéric Pierrot, „Eine Schwalbe macht den Sommer“) wirkt in seiner Einsamkeit selbst wie ein Gefangener. Oder Léas Universitäts-Kollege Michel (Laurent Grévill, „The Good Thief“), der sich Juliette nähert, ohne Fragen zu stellen. Anflüge von leisem Humor durchbrechen die thematische Schwere, die brillanten Darstellerinnen bewahren der elegischen Charakterstudie ihre Spannung. Schade nur, dass am Schluss auch das letzte Geheimnis gelüftet werden muss.
Wertung: (8 / 10)