Piercing (USA 2018)

„Can we eat first?“

In seinen Büchern lotet der japanische Schriftsteller Ryū Murakami bevorzugt menschliche Schattenseiten aus. Seine mehr als dreißig Romane, darunter „Coin Locker Babies“ (1980) und „In der Misosuppe“ (1997), künden häufig von einem unterdrückten Spannungsfeld aus Sex und Macht. Erfolge verbuchte der heute 67-jährige auch als Filmemacher. Seine bekannteste Arbeit: das provokante Erotik-Drama „Tokio Dekadenz“ (1992). Aus Murakamis Feder stammt auch „Audition“, von Takashi Miike 1999 als elegisch verstörender Arthouse-Schocker adaptiert.

Ein weiterer wiederkehrender Faktor seines Oeuvres ist die Frage, wie sich tiefgreifende (emotionale) Verletzungen auf die Psyche auswirken. Sie dient auch „Piercing“ als Antrieb, der ersten US-amerikanischen Filmversion eines seiner Romane. Zwar übt sich der für Skript und Regie verantwortliche Nicolas Pesce („The Eyes of My Mother“) gerade bei der sexualisierten Gewalt in Zurückhaltung, an kontroversem Subtext mangelt es dem elegant gefilmten Psycho-Thriller trotzdem nicht. Das unterstreicht Pesce gleich zum Auftakt, wenn er Familienvater Reed (Christopher Abbot, „It Comes at Night“), von einem unbändigen Drang getrieben, mit erhobenem Eispickel über dem Baby-Bett der eigenen Tochter zeigt.

Reed ist von der Vorstellung besessen, einen Menschen zu töten. Um dem barbarischen Trieb nachzugeben, fasst er den Entschluss, eine Prostituierte zu ermorden. Englisch muss sie sprechen, damit der Terror real – und jederzeit verständlich – ist. Zunächst füllt Reed ein Notizbuch mit Details seines Plans. Nichts soll dem Zufall überlassen werden. Frau (Laia Costa, „Victoria“) und Kind verlässt er unter dem Vorwand einer Dienstreise und mietet sich in einem Hotel ein. Dort angekommen, prüft er im Selbstversuch das Betäubungsmittel und spielt den Mord ohne Opfer durch. Der Sound von Blutschwall und Knochensäge befreit den Akt auch für den Zuschauer von jeder Komik. 

Als Opfer bestellt er sich SM-Callgirl Jackie (Mia Wasikowska, „Alice im Wunderland“) aufs Zimmer. Doch der Abend nimmt eine unerwartete Wendung, als die sich mit einer Schere Löcher in den Oberschenkel stanzt. So setzt es statt Zerstückelung in der Badewanne eine gemeinsame Fahrt ins Krankenhaus (als Arzt mit Sekundenauftritt: Wendell Pierce, „Tremé“). Danach tendiert der Film in eine Richtung, die der initialen Prämisse kaum mehr entspricht. Der Plot verflacht über betont tiefsinnige Dialoge und kehrt erst auf der Zielgeraden zur eingangs anvisierten Schockwirkung zurück. Dabei gewährt Pesce, während eines rauschhaft gefilmten Drogentrips, fragmentarische Einblicke in die Ursachen für Reeds psychische Belastungsstörung.  

Im Falle von Jackie belässt es der Filmemacher hingegen bei Andeutungen. Dafür umgarnt er die Geschichte mit stilistischen Anleihen beim Kino der 70er (deutlichstes Stilmittel: Split-Screens). Dazu gleitet die Kamera, untermalt von fiebrigem Synthie-Sound, über nächtliche (Modell-)Hochhauszeilen. In diesem anonymen, empathisch schier gleichgültigen Ballungsraum bleibt die abgründig erotisch beladene Odyssee der beiden Fremden unbemerkt. Selbst der Hotelpage bittet Reed ob Jackies Geschrei via Telefon, doch bitte Rücksicht auf die Zimmernachbarn zu nehmen. Die mit rund 80 Minuten angenehm knapp gehaltene Independent-Produktion lebt von den sehenswerten Hauptdarstellern. Dass Murakamis Vorlage deutlich mehr charakterliche Entblößung bietet, bleibt der insgesamt etwas oberflächlichen Filmversion anzumerken. Wer gern auf unbequeme Weise unterhalten wird, liegt mit „Piercing“ jedoch keinesfalls falsch.

Wertung: 6 out of 10 stars (6 / 10)

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