Man on Wire – Der Drahtseilakt (GB/USA 2008)

man-on-wire-der-drahtseilaktThe artistic crime of the century.

Wenn der Dokumentarfilm zum Zwiegespräch verleitet. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob er über die klassische Form, die von „sprechenden Köpfen“ und gebotener Nüchternheit, hinausragen – und sich bei der Inszenierung gar von Hollywoods Genre-Kino verleiten lassen darf. Was dem Puristen ein Affront, ist dem progressiven zeitgenössischen Filmkünstler ein Versuch wert. Im Falle von James Marsh („The King oder das 11. Gebot“) führte es zur Überschüttung mit Auszeichnungen. Selbst einen Oscar durfte der Brite 2009 in Empfang nehmen.

Sein „Man on Wire“ ist die schwindelerregende, im Stile eines Heist-Thrillers aufgezogene Rekonstruktion eines außergewöhnlichen Verbrechens: Am 7. August 1974, kurz nach 7 Uhr morgens, wagt der französische Hochseilartist Philippe Petit das unvorstellbare. Zwischen den Türmen des New Yorker World Trade Centers, in über 400 Metern Höhe, tanzt er, ohne jede Erlaubnis, elegant über ein Drahtseil. Selbst den herbeigerufenen Polizisten stockt ehrfürchtig der Atem. Sie können sich dem Applaus nur anschließen, bevor sie den wagemutigen Zirkuskünstler nach rund 40 Minuten pflichtbewusst abführen.

Petit und seine Mittäter planen den Coup minutiös. Bereits Jahre zuvor, als er erstmals vom Bau der Zwillingstürme liest, ist er besessen von der Idee, auf einem Seil zwischen ihnen zu balancieren. Wortreich kommt der Aktionist selbst zu Wort. Doch werden seine von lebendiger Begeisterung genährten Ausführungen vom Stakkato der Schnitte unterbrochen. Equipment will nach Amerika eingeführt, mehr noch in die obersten Stockwerke des im Bau befindlichen Wolkenkratzerduos geschmuggelt werden. Das riskante Unterfangen ist ein Kampf gegen die Entdeckung durch Sicherheitskräfte, tückische Winde und die Angst vor der eigenen Courage.

Der dreiste Drahtseilakt soll die Filetspitze in der artistischen Karriere eines Mannes werden, der seine schier übermenschliche Körperbeherrschung zwischen Bäumen und Balken auf den Wiesen seiner Heimat erlangt. Vor New York liegen Paris und Sidney, wo er mit ähnlichen Aktionen die Kathedrale Notre Dame, bzw. die berühmte australische Hafenbrücke zu seiner Bühne macht. Neben der Mystifizierung Petits setzt Marsh auch dem 2001 durch terroristische Anschläge zerstörten World Trade Center ein filmisches Denkmal. Vielleicht strebt er zu oft den puren Adrenalinausstoß an. Am enormen Unterhaltungswert seiner stilistisch modernen – und damit keinesfalls fehlgeleiteten – Dokumentation ändert das jedoch nichts.

Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

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