Lost (Season 1 – 6) (USA 2004 – 2010)

lostcast „Do you know why they call Australia ´Down Under´? Because it’s as close as you can get to Hell without being burned.“ – Nicht nur dem Namen nach ein Quell religiöser Verweise: Christian Shephard

Am Anfang wird ein Auge geöffnet. Abrupt. Orientierungslos. Von unten blickt es auf die Wipfel eines Bambuswäldchens. Es ist der kurze Moment der Ruhe vor dem Sturm. Und dass, obwohl die eigentliche Katastrophe bereits vorüber ist. Flug Oceanic 815 war auf dem Weg von Sydney nach Los Angeles. Erst kam der Pilot vom Kurs ab, dann zerbrach die Maschine wie aus dem Nichts im Nirgendwo und stürzte über einer einsamen Insel ab. Diese wird nicht nur die Gestrandeten, die Verlorenen auf Trab halten, sondern auch den Zuschauer. Denn die Entschlüsselung ihrer Geheimnisse und die Zusammenführung von Schicksalen und Leben reißt Millionen Menschen rund um den Globus mit. Immer und immer wieder.

„Lost“ hat längst TV-Geschichte geschrieben und bietet auch nach dem im Mai 2010 erstmals ausgestrahlten Finale ausreichend Diskussionsstoff, um diversen Universitätsabsolventen verschiedener Fachrichtungen ihre Abschlussarbeiten zu füllen. Über 6 Staffeln und 115 Episoden kreierten die Serienschöpfer J.J. Abrams, Jeffrey Lieber und Damon Lindelof einen Kosmos, der (nahezu) perfekt zwischen Mystery und Drama schwebt. Ihre Figuren wirken glaubhaft und real genug, um an ihren Geschichten Anteil zu nehmen, während die ominöse Insel mit ihren unerklärbaren Phänomenen und nachhaltig erläuterten Gefahren eine faszinierende Fremdartigkeit suggeriert, die Spekulationen und Interpretationen mit jedem neuen Cliffhanger nur weiter befeuert.

„If we can’t live together… we’re gonna die alone.“ – Jack

Von den ursprünglich 48 Überlebenden nehmen einige wenige die Hauptrollen ein: Jack Shephard (Matthew Fox), ein brillanter, aber stets mit sich hadernder Chirurg, wollte den toten Vater, Christian (John Terry), aus Sydney in die Heimat überführen. Er wird ein Anführer, eine Art moralische Identifikationsfigur. Ein Hirte eben, wie es bereits sein Nachname andeutet. Die erste freundschaftliche Bekanntschaft – und schnell auch Love Interest – wird Kate Austen (Evangeline Lilly), eine flüchtige Verbrecherin, die von einem Bundesbeamten in Australien geschnappt wurde. Zwischen den beiden steht James Ford (Josh Holloway), genannt Sawyer, ein zynischer Betrüger, den die Geister der Vergangenheit nicht loslassen. Eine Schlüsselrolle fällt John Locke (Terry O´Quinn) zu, einem an den Rollstuhl gefesselten Büroangestellten, der nach dem Crash plötzlich wieder laufen kann – und der den Absturz als erster als Fügung des Schicksals begreifen will.

Weiterhin ist da der ebenso fettleibige wie gutmütige Hugo Reyes (Jorge Garcia), genannt Hurley, der sich seit einem Millionengewinn im Lotto als verflucht betrachtet. Sun (Yunjin Kim) und Jin Kwon (Daniel Dae Kim), ein südkoreanisches Ehepaar, flohen vor ihrem Vater, einem patriarchisch kriminellen Großunternehmer nach Amerika. Sayid Jarrah (Naveen Andrews) diente unter Saddam Hussein in der Republikanischen Garde des Irak und verrichtete seine Dienste als Foltermeister später auch für das US-Militär. Charlie Pace (Dominic Monaghan), ein junger heroinsüchtiger Musiker, freundet sich mit Claire Littleton (Emilie de Ravin) an, die, hochschwanger, kurz nach der Ankunft auf der Insel entbindet. Der mittellose schwarze Künstler Michael Dawson (Harold Perrineau) ringt mit seiner Verantwortung als Vater, würde jedoch alles tun, um Sohn Walt (Malcolm David Kelley) nach Hause zu bringen.

„I’ve looked into the eye of this island, and what I saw… was beautiful.“ – Locke

Die erste Staffel dient der Orientierung und Einführung. In parallel eingeflochtenen episodischen Flashbacks wird die Vergangenheit der einzelnen Protagonisten erörtert und ein komplexes Charaktergefüge geschaffen. Während die Gruppe zusammenwächst und den Überlebenskampf auf der geheimnisvollen Inselwelt annimmt, ziehen die ersten Fragezeichen auf. Welch gewaltige Kraft treibt im Dschungel ihr Unwesen? Warum sieht Jack seinen toten Vater? Wie kommen Polarbären auf das Eiland? Das Monster (später in Fankreisen bevorzugt als ´Man in Black´ adressiert) entpuppt sich später als elektrisch zischende schwarze Rauchwolke. Ihre Herkunft wird erst in der finalen Season enthüllt, wenn die bedrohliche Novität des Settings längst einem epischen Kontext mit enormem Zuwachs an Figuren und Handlungsorten gewichen ist.

Denn natürlich sind die Gestrandeten nicht allein. Dies zeigt sich erstmals, als der zunächst unbemerkte Fremde Ethan (William Mapother) versucht Claire und ihr Baby zu entführen. Damit nicht genug, stoßen Locke und Boone (Ian Somerhalder), dessen verzogene Schwester Shannon (Maggie Grace) zögerlich mit Sayid anbandelt, auf das Wrack eines kleinen zweimotorigen Flugzeugs – und folgen den sorgsam ausgestreuten Brotkrumen bis zu einer mysteriösen Luke im Boden. Sie scheint antworten zu verheißen und Lösungen anzubieten. Doch unter ihr findet sich in Staffel zwei lediglich der Schotte Desmond (Henry Ian Cusick), der in einem Bunker alle 108 Minuten eine Kombination Hurley seltsam familiär erscheinender Zahlen (4, 8, 15, 16, 23, 42) in einen Computer eintippt, um, wie es ihm gesagt wurde, den Untergang der Welt zu verhindern.

„This is all there is left. This ocean, and this place here, we are stuck in a bloody snowglobe!“ – Desmond

Die durch Ethan vage eingeführten anderen Bewohner, genannt ´The Others´ offenbaren sich erstmals offen bei einem Versuch von Sawyer, Jin, Michael und Walt der Insel zu entkommen. Walt wird verschleppt, das mühsam erbaute Floß in Brand gesteckt. Zurück am Strand begegnen Michael und seine Begleiter den Überlebenden des beim Absturz abgesprengten Hecks von Flug Oceanic 815: der toughen Polizistin Ana Lucia (Michelle Rodriguez), dem afrikanischen Priester Mr. Eko (Adewale Akinnuoye-Agbaje), Zahnarzt Bernard (Sam Anderson), Mann der von Jack in der Pilotfolge geretteten Rose (L. Scott Caldwell), und die Hurley bald die Augen verdrehende Libby (Cynthia Watros).

Mehr noch als die Bedrohung durch die Others führt Staffel zwei den faszinierendsten und ambivalentesten Charakter der gesamten Serie ein: Benjamin Linus (Michael Emerson), den Anführer der lange undurchsichtigen Gegenpartei. Er ist Teil der Dharma Initiative, die auf der Insel Versuchsreihen durchführte und ein ganzes Netz technisierter Stationen anlegte, deren Funktionsweise bevorzugt durch Lehrfilme mit Beteiligung Dr. Changs (Francois Chau) erläutert wird. Eine davon ist ´The Swan´, in der Locke alle 108 Minuten wie besessen jenen die Welt rettenden Knopf drückt. Ben, der sich als Henry Gale ausgibt und nach bemerkter Lüge von Sayid gefoltert wird, streut Zweifel. Vor allem in Locke, der wie Michael in der hoch dramatischen Zuspitzung der zweiten Staffel eine fatale Entscheidung trifft.

„This is not your island. This is our island and the only reason that you’re livin‘ on it, is because we let you live on it.“ – Bens loyaler Gefolgsmann Mr. Friendly (M.C. Gainey)

Die von Ben gewaltsam übernommene Dharma Initiative bewohnt eine komfortable Holzhaussiedlung und forscht nach den Ursachen, warum schwangere Frauen auf der Insel sterben. Als Leitfigur einer weiteren Partei, den wahren Others, wird Richard Alpert (Nestor Carbonell) vorgestellt, der nicht zu altern scheint und einem gewissen Jacob (Mark Pellegrino) unterstellt ist, der die Geschicke auf der Insel lenkt und sie zugleich beschützt. Vor was bleibt lange im Dunklen. Zwar wird in knappen Andeutungen Licht auf diverse Mysterien geworfen, Antworten bleiben aber selbst noch in den Staffeln drei und vier Mangelware.

Die Flashbacks kommen neben den Gestrandeten nun auch bei relevanten Mitgliedern von Dharma zum tragen, was neben Ben vor allem Ärztin Juliet (Elizabeth Mitchell) einschließt. Zwischen allen Fronten steht noch die kauzige Französin Roussou (Mira Furlan), die 15 Jahre zuvor auf der Insel strandete und deren Tochter Alex (Tania Raymonde) von Ben entführt und aufgezogen wurde. Als dessen Erzfeind entpuppt sich der mächtige Unternehmer Charles Widmore (Alan Dale), der wiederum Vater von Desmonds großer Liebe Penny (Sonya Walger) ist. Sie versucht ihrerseits den verschollenen Geliebten aufzuspüren, was mit Ankunft eines Frachters in Inselnähe für einige Verwirrung – und über die Figur Desmonds obendrein für zehrende Zeitsprünge – sorgt.

„Don’t mistake coincidence for fate.“ – Mr. Eko

Der Konflikt zwischen vor- und Selbstbestimmung wird in der Anhäufung immer neuer Geheimnisse und Rätsel beständig angefacht. Während die persönlichen Verstrickungen und Querverbindungen unübersichtliche Formen annehmen, scheint mit dem angeblich von Penny geschickten Frachtschiff Rettung nahe. Mit der Besatzung des Bootes gelangen unter anderem Wissenschaftler Daniel Faraday (Jeremy Davies), Charlotte (Rebecca Mader), dem mit Leichen in Kontakt tretenden Miles (Ken Leung) und der Pilot Lapidus (Jeff Fahey) auf die Insel. Als Spielbälle zwischen Widmore und Ben, Gestrandeten und Others, Jack und Locke, werden auch sie allmählich zu Schlüsselfiguren.

In den zunehmend offen aufbrechenden Konflikten steigt bald die Zahl der Opfer. Um der Konfusion des Zuschauers endgültig die Krone aufzusetzen, vollführt das vermeintlich rückblickende Finale von Staffel vier den Blick nach vorn und offenbart bald sechs von der Insel Gerettete – die ´Oceanic Six´. Aus Flashbacks werden Flash Forwards (in der finalen Staffel kommen gar noch parallel-alternative Flash Sideways hinzu!), was das dramaturgische Puzzlespiel an verschiedenen Schauplätzen so entscheidend wie clever variiert. Antworten aber bleiben weiterhin rar gesät. Stattdessen keimen, vor allem die Rolle und Bedeutung Bens betreffend, neue Fragen auf.

„Two players, two sides. One is light, one is dark.“ – Locke erläutert die Essenz von Backgammon. Oder etwa nicht?

Früh wurde der Verdacht aufgeworfen, die übernatürliche Insel sei der Vorhof zur Hölle und die Gestrandeten wären längst tot. Tatsächlich ist „Lost“ gespickt mit religiösen Verweisen, Metaphern und Symbolen. Die in der Auftaktstaffel wiederholt vollzogene Gegenüberstellung von Schwarz und Weiß als Hinweis auf den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse scheint lange verworfen, erfährt in der finalen Season jedoch eine bedeutende Wiederaufnahme. Kritik an den Machern kam mit Staffel drei auf. Spärlichen Antworten standen noch mehr Fragezeichen und der umfassenden Ausweitung von Protagonisten und Schauplätzen gegenüber. Der Vorwurf wurde laut, es gäbe keine ganzheitliche Vision und Abrams verzettele sich mit seinem Team in immer komplexeren Wendungen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Nach sechs Staffeln würde Schluss sein, mit einem Abrams seit Produktionsbeginn vorschwebenden Finale. Das saß!

Ursprünglich sollten Abrams und Co-Erfinder Damon Lindelof das Konzept einer ´Cast Away´-Show lediglich aufpeppen. Das Ergebnis der unter immensem Zeitdruck erstellten Konzeption begeisterte die Verantwortlichen beim TV-Sender ABC aber sofort und der Startschuss zur Produktion wurde rasch gegeben. Als kulturelles Phänomen eroberte „Lost“ vom Fleck weg das Internet. In Foren und Blogs wurde spekuliert und interpretiert, Figuren wurden analysiert und Puzzleteile zusammengefügt. Nicht umsonst funktioniert die Serie nach einem ´Everything is connected´-Schema, bei dem jede Beiläufigkeit eine Verbindung zum Leben einer oder gar mehrerer Figuren aufweisen kann. In diesem Geflecht eng verwobener Schicksale den Überblick zu behalten fällt wahrlich nicht leicht.

„Tomorrow night we stop hiding, we stop running, we stop living in fear of them. Because when they show up, we’re going to blow them all to hell.” – Zu allem entschlossen: Jack

Doch nicht allein die ausschweifend mosaikartige Erzählweise mit ihren Zeitsprüngen und -reisen gab den Ausschlag für den überwältigenden Erfolg. Der den 13 Regisseuren, darunter Jack Bender, Stephen Williams oder Abrams selbst, auferlegte Inszenierungsstil erreicht, sofern man wohlwollend über mittelmäßige Computertricks hinwegsehen will, locker Kinoqualität und nicht zuletzt das überwältigende musikalische Gesamtkonzept Michael Giacchinos erweist sich als Spannung schürende Geheimwaffe. So bleibt „Lost“, mit mehr als 50 internationalen TV-Preisen (u.a. einem verdienten Emmy für Michael Emerson) ausgezeichnet, auch bei der wiederholten Rezeption, stets faszinierend. Mitunter mag die komplexe Verknüpfung der zahlreichen Protagonisten, mehr noch die individuelle Vorgeschichte trivial erscheinen – der Banalität preisgegeben wird sie jedoch zu keinem Zeitpunkt.

Die wiederkehrenden übergeordneten Konflikte, allen voran der zwischen Vorsehung und Selbstbestimmung, erfahren im Finale, bei dem Jacob und seinem Bruder (Titus Welliver) als Hüter einer geheimnisvollen Lichtgrotte entscheidende Bedeutung zufällt, einen deutlichen Ausschlag. Nicht wenige Fans ließ das so konsensfähige wie überkonfessionelle Ende inklusive Berufung eines auserwählten Inselhüters enttäuscht zurück. Trotzdem muss man den Machern zugute halten, dass sie trotz schwächerer Passagen (wie die von Zeitlöchern und Vergangenheitsvisiten geprägte fünfte Staffel) an ihrer Vision festhielten und nicht zuletzt durch die bisweilen hochdramatische Dezimierung der Hauptprotagonisten für zahlreiche intensive Momente sorgten.

„See you in another life, brother.” – Desmond

Zwischen Anteilnahme, Rätselraten und Hochspannung wird der Zuschauer durch ein herausragend ausbalanciertes Labyrinth persönlicher Dramen und unheimlicher Vorzeichen geführt. Die Gefühlsbäder der Figuren werden dank der nachvollziehbaren Charaktere auch die des Publikums. Doch auch die primär von Sawyer angefeuerten Zitate, Spitznamen und kulturellen Querverweise, der im Detail immer wieder herrliche Humor oder selbst die oft überraschend blutigen Gewalteruptionen tragen als Teil dieses herausragenden Unterhaltungskonzeptes zur umfassenden Begeisterungsfähigkeit bei. Nicht zu vergessen Gastakteure wie Lance Reddick („The Wire“), Cheech Marin („From Dusk Till Dawn“), „Mutter Bundy“ Katey Sagal oder „Highlander“-Schurke Clancy Brown.

Bewundernswert ist das immense Geschick, mit dem die Macher den beständig stark aufspielenden Cast zusammenhielten und auch Budgetkürzungen und Autorenstreik nahezu ohne Qualitätsverlust überwanden. Dass final nicht alle Fragen beantwortet werden, stieß vielen Fans sauer auf. Doch hält gerade das die Faszination und die erneute Suche nach Interpretationsansätzen und Hinweisen am Leben. Und so wird am Ende ein Auge geschlossen. Langsam. Friedlich. Wieder sind da die Wipfel des Bambuswäldchens. Diesmal umschließt er den strahlenden blauen Himmel. Der Kreis wird geschlossen und ein denkwürdiges TV-Phänomen findet ein (aufgrund der schlussendlichen Auflösung der irritierenden Flash Sideways) mythologisch überfrachtetes, jedoch verdientes und allen voran versöhnliches Ende.

Wertung: 8.5 out of 10 stars (8,5 / 10)

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