Knochenfabrik – Ameisenstaat (1997, Vitaminepillen Records)

Am Ende des Jahres 2020 stellt sich kaum noch die Frage, ob Punk wirklich „not dead“ ist. Rockmusik füllt bestenfalls die Classic-Sparte im Radio oder gipfelt in Metalcore-Playlisten auf Spotify, in denen sich neben den größten Hits von ARCHITECTS auch mehrere hunderte Bands tummeln, die gerne ARCHITECTS wären. In der deutschen Musiklandschaft liefern derweil DIE TOTEN HOSEN den Soundtrack zum Sektfrühstück am Ufer des Rheins. Zumindest DIE ÄRZTE bleiben stabil, wie immer eigentlich. Grund genug, einen Blick zurück auf das vielleicht punkigste Deutschpunkalbum der Musikgeschichte zu werfen.

Denn letztendlich ist es exakt das, was KNOCHENFABRIK auf ihrem 1997er-Release „Ameisenstaat“ bis zur Perfektion durchexerzieren: Der Gesang von Claus Lüer (CHEFDENKER, CASANOVAS SCHWULE SEITE) ist schief, der Gitarrensound erinnert schwer an den ersten 15-Watt-Proberaumamp, den wohl jeder Gitarrist irgendwann einmal von einem älteren Bruder übernommen hat, und der Mix des gesamten Albums klingt wie auf einem Playmobil-Rekorder aufgenommen und abgemischt. Kurz zusammengefasst: Ein absolutes Meisterwerk.

Denn: Der Gesang auf den etwa 700 Songs auf „Ameisenstaat“ ist zwar schief, aber eben auch einzigartig und expressiv. Die Gitarren klingen zwar arg schrammelig, aber knallen ein eingängiges Riff nach dem nächsten auf das zugegebenermaßen sehr solide Drumming des Albums (von Achim Lauber, später SUPERNICHTS und sehr viel später DETLEF). Obendrein unterstreicht der sehr raue Mix das Feeling der Tracks eigentlich perfekt. Dazu sorgen Texte, die zwischen Politik, Unterhaltung und manchmal sogar einer etwas eigenen Form von Philosophie pendeln, dafür, dass der Singalong beim zweiten Refrain von jeder Nummer sitzen dürfte. Muss er auch, denn die Songs sind in der Regel verdammt kurz.

Und ja, „Filmriss“ ist das offensichtliche Beispiel hierfür und vielleicht der einzige Hit der Band, wenn man die Phrase in eine zweistellige Anzahl Gänsefüßchen setzt. Aber Songs wie „Ich hör dir nicht zu“, „Grüne Haare“ oder „Was ist bloß passiert“ sind nicht nur auf einem Level mit der „Hitsingle“ der Band, sondern spielen eigentlich sogar in einer höheren Liga. Und, das ist vielleicht das Interessanteste an „Ameisenstaat“: Die Songs funktionieren auch mehr als 20 Jahre später noch, vielleicht sogar besser als in grauer Vorzeit, als das Album erschienen ist.

Das liegt einerseits daran, dass die Texte größtenteils wenig zeitgeschichtlichen Bezug haben und andererseits aber auch daran, dass es in der aktuellen Zeit, in der nicht nur Punk auf dem Sterbebett liegt, sondern Rockmusik in Gänze eher „Malen nach Zahlen“ betreibt, eine Band wie KNOCHENFABRIK dringender brauchen würde als je zuvor. „Ameisenstaat“ ist eckig, kantig, ranzig, laut und schief. Und vom ersten „Ich habe nachgedacht über die Spezialisierungstendenzen gewisser Insektenarten“ (übrigens der Synchro des Films „Phase IV“ entnommen) im Opener bis zum letzten „Bravo!“ in „Ficken Saufen Schalke Oi“ das vermutlich beste Deutschpunk-Release aller Zeiten.

Wertung: 9.5 out of 10 stars (9,5 / 10)

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