Kinsey (USA/D 2004)

kinseyDie sexuelle Revolution der 68er-Generation wäre ohne Alfred C. Kinsey wohl undenkbar gewesen. Der Spross eines strengen Geistlichen geriet über den Umweg der Biologie in die Sexualforschung – und brachte die Nation mit seinen Studien über die menschliche Sexualität ab den 1920ern zum Brodeln. „Gods and Monsters“-Regisseur Bill Condon setzt Oswald Kolles amerikanischem Bruder im Geiste mit „Kinsey“ ein feinfühliges filmisches Denkmal. Und offenbart auch 49 Jahre nach dem Tode Kinseys die tief verwurzelte Prüderie in manch verzweigtem Part der US-Bevölkerung.

Liam Neeson („Schindlers Liste“) verkörpert Kinsey charakterstark zwischen verschrobener Sympathie und wissenschaftlicher Besessenheit. Darunter zu leiden hat vor allem dessen Frau Clara McMillen (Laura Linney, „Mystic River“), die allein die Auslebung seiner spät entdeckten Bisexualität zu verarbeiten hat. Zusammen mit seinem Studenten Clyde Martin (Peter Sarsgaard, „The Garden State“) – zu dem er homoerotische Kontakte pflegt – setzt Kinsey eine landesweite Serie von Interviews zu den sexuellen Gewohnheiten der männlichen US-Amerikaner in Gang. Die Ergebnisse werden in einem Buch veröffentlicht, das zum landesweiten Kassenschlager wird. Doch steigt mit wachsender Popularität Kinseys auch die Zahl seiner Gegner.

„Kinsey“ ist eine liebevolle Filmbiografie, die das bis heute umstrittene Wirken und Walten des Sexualforschers in nüchternen Bildern und ruhiger Erzählweise auf die Leinwand bringt. Allerdings verzichtet Regisseur Condon auf Distanz zu seinem Proklamierer, trotz kritischen Nuancen überwiegt standhafte Sympathie in der Darstellung des angefeindeten Modernisten. Der raffiniert umgesetzte Einstieg erfolgt über Pretests der von Kinsey erstellten Fragebögen, die mit ihm und seiner Frau exemplarisch für die Interviewer vollzogen werden. So wird auf interessanter Basis und mit geringem Aufwand der gesamte Hintergrund des Alfred C. Kinsey beleuchtet.

Die gute Besetzung findet ihre Ergänzung in Chris O´Donnell („Batman & Robin“), Timothy Hutton („Das geheime Fenster“), John Lithgow („Ricochet“), Oliver Platt („Pieces of April“), Tim Curry („Scary Movie 2“) und William Sadler („The Green mile“), der mit einer erschreckend nüchternen Darbietung eines sexbesessenen Pädophilen glänzt. Trotz zumeist flüchtiger Personalisierung der Charaktere lebt der Film von den durchweg stimmigen Darbietungen der Schauspieler. Auf inhaltlicher Ebene überzeugt der bislang beste Beitrag der jüngst zum Trend avancierten Welle an Bio-Pics durch seine leise Erzählweise, die zwar Raum für subtilen Humor, nicht jedoch für plumpe Skandalösität bietet.

In seinem Herstellungsland USA schlug „Kinsey“ Wogen der Empörung seitens erzkonservativer Moralisten. Diese wollen auch in der Gegenwart den schadhaften Einfluss des Forschers auf die Gesellschaft verstanden wissen. Dass der Film in Amerika als Alterseinstufung ein R-Rating erhielt – was bedeutet Jugendlichen unter 17 Jahren ist die Sichtung des Films nur in Begleitung eines Erwachsenen möglich – belegt, dass die Prüderie im „Land of the Free“ einen hartnäckigen Opportunisten stellt. Dabei ist Condons Werk nicht weniger als das interessante und stets unterhaltsame Portrait eines komplizierten Menschen.

Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

scroll to top