Hörspiel-Review: Arzu (2020, Wolfy-Office)

Ehrenmord. Ein Wort, dessen Klang in die Irre führt. Denn Mord hat nichts Ehrenhaftes an sich. Doch der Begriff verweist auf die Motivlage hinter dem Verbrechen, die Illusion, durch die Tötung eines Menschen erlittene Schande aufwiegen zu können. Die Opfer sind mehrheitlich weiblich, ihre „Vergehen“ aus Perspektive einer modernen, einer offenen Gesellschaft kaum mehr als die Auslebung grundlegender Rechte. Nur korrespondieren diese nicht mit dem patriarchalen sozialen Gefüge, in dem sie erzogen wurden. In streng islamischen Regionen, wo die Scharia Gesetz ist und archaische Traditionen bis heute gesellschaftliche Eckpfeiler bilden, kommen Ehrenmorde häufiger vor. Beispiele finden sich aber auch in westlichen Kulturkreisen – und das öfter, als es zu vermuten wäre.

In Deutschland werden einer 2011 veröffentlichten Studie zufolge im jährlichen Durchschnitt zwischen 7 und 10 ehrbezogene Morde verübt. Fast zwei Drittel der Täter wurden in der Türkei geboren. Hinter ihnen stehen Familien, in denen Männer die dominierenden Kräfte stellen. Wer aus dem damit verbundenen Wertewerk ausbricht, läuft Gefahr, die Sippe zu entehren. Ein konkreter Fall ist die Ermordung der Deutsch-Kurdin Arzu Özmen am 1. November 2011. Ihm hat Autorin und Kurzfilm-Regisseurin Milena Aboyan („Der Greteltrick“) ein aufwühlendes Hörspiel gewidmet, das von der Fürther Initiative DEMOKRATIE LEBEN mit Unterstützung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wurde.

Das von Sirius Kestel als Produzent, Tonmeister und Sounddesigner begleitete Werk gibt eine vage Ahnung davon, was in den Stunden vor Arzus Ermordung geschah. Die 18-jährige, eindringlich vertont von Rana Farahani, hat sich von ihrer Familie abgewandt und ist unter geändertem Namen in einem Frauenhaus untergetaucht. Der Grund ist ihre Beziehung mit dem Deutschen Alex (Boris Keil), die von der Familie strikt untersagt wurde. Doch Arzu begehrt auf, zeigt den Vater an und taucht unter. Die Gründe für die Einbeziehung der Polizei werden in der Quasi-Rekonstruktion über Traumsequenzen angedeutet: Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung.

Kein Happy End, keine Hoffnung

Der dahinter stehende psychologische Aspekt sorgt dafür, dass „Arzu“ insgesamt schwere Kost markiert. Es gibt kein Happy End, keine Hoffnung. Nur eine bittere Moral. Sie ist zugleich Weckruf an eine tolerante Gesellschaft, kulturell begründete Unterdrückung keinesfalls zu billigen. Denn Arzu darf nicht leben, wie sie will, und nicht lieben, wen sie will. Die Schmach, die ihr Ausbruch aus dem revisionistischen Weltbild bedeutet, will die Familie nicht hinnehmen. Das Hörspiel beginnt mit Arzu und Alex, die nach Gesprächen über Vergangenheit und Zukunft jäh aufgeschreckt werden: Drei ihrer Geschwister dringen während einer verregneten Nacht in die Wohnung ein und verschleppen die junge Frau gewaltsam. Der Plan sieht vor, Arzu zu einem Onkel zu bringen. Doch es kommt anders.

Neben den Gesprächen, in denen die Entführte mit wachsender Verzweiflung versucht, auf ihre beiden Brüder Osman (Hasan H. Tasgin) und Kirir (Doguhan Kabadayi) sowie ihre Schwester Shirin (Suri Abbassi) einzuwirken, wird das beklemmende Szenario von den erwähnten Traumsequenzen durchbrochen. In ihnen erscheinen Arzus Blutsverwandte als gesichtslose Monster oder Scharen ekelerregender Rieseninsekten, die ihr Leid zufügen wollen. Darunter verbergen sich subtile Blicke auf die Vorgeschichte und – anders als in der Realität – Möglichkeiten zur Gegenwehr. Das Fantastische im schrecklichen Schatten der Wirklichkeit erinnert in seiner Stilistik an Guillermo del Toros „Pans Labyrinth“ (2006). Im Rahmen der Hörspiel-Erzählung wirken diese Intermezzi jedoch ein wenig deplatziert.

Das liegt einerseits an Off-Erzählerin An Kuohn, die übertrieben lautmalerisch formulierte Schilderungen der alptraumhaften Manifestationen liefert, und andererseits am insgesamt überschaubaren Erkenntnisgewinn. Dennoch ist „Arzu“ ein so ungewöhnliches wie relevantes Hörspiel, das aus seiner kammerspielartigen Prämisse ein hohes Maß unbequemer Atmosphäre destilliert. Der Horror ist real – und entlädt sich in einem mörderischen Akt der Gewalt. Dessen barbarischer Manier steht die klassische Musikuntermalung des Gesamtwerks gegenüber, die u. a. auf Beethoven zurückgreift. Am bitteren Ende bleibt Arzu keine Chance mehr, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Aboyan lässt die Hörenden als hilflose Zeugen mit ihren aufgerüttelten Emotionen zurück. Die Altersempfehlung ab 16 Jahren sowie die einleitende Warnung erscheinen daher kaum übertrieben.

Das Bonusmaterial

Neben dem rund 52-minütigen Hauptteil bietet „Arzu“ ein Bonuskapitel. Bedauerlicherweise entpuppt sich dieses aber nicht als unterstützendes Informationsprogramm zum Fall Arzu Özmen oder dem Thema Ehrenmord an sich, sondern als weiteres Hörspiel: „Mordsmäßig“ von Diddi Meyer (Skript) und Anouk Elias (Inszenierung) bietet über 18 Minuten Kontrastprogramm in Form einer Verhörsituation. Dabei wird der deutsche Dienstreisende Martin Seifert (Jürgen Heimüller) am Flughafen von Graz ausgerufen und von einer Polizistin (Michaela Domes) vernommen.

Es geht um den dringenden Verdacht, Seifert habe zwei Frauen ermordet. Nur kann er sich partout an nichts erinnern und reagiert auf die ihm eröffneten Beweise zunehmend konsterniert. Das ergänzende Stück wurde ursprünglich als Kurzfilm gedreht, jedoch nie veröffentlicht und kommt nun zur Ehre seiner verzögerten Premiere. Machart und Leistungen der Mitwirkenden bleiben tadellos. Allerdings erscheint die Entwicklung der Vernehmung gerade hinsichtlich der finalen Wendung nicht allein abrupt, sondern überdies vorhersehbar. Dass die Möglichkeit genutzt wurde, „Mordsmäßig“ einem breiteren Publikum vorzustellen, erscheint verständlich. Eine sinnvolle Ergänzung zu „Arzu“ ist das Kriminalstück aber keineswegs.   

scroll to top