Prägende Alben sind selten. Den meisten Bands gelingen sie nie. Andere schaffen gleich mehrere. Nachdem GREEN DAY mit „Dookie“ (1994) nachhaltig die kommerzielle Zugkraft des modernen (Pop-)Punks befeuert hatten, legten sie in der Folge zweifelsfrei gefällige, aber auch zunehmend weichgespülte Werke vor. Dann kam „American Idiot“ (2004), eine politisch beladene wie musikalisch verblüffend vielfältige Platte, die punktgenau ins Gefühl der aufgewühlten US-Gesellschaft passte. Mit diesem Meisterstück erfanden sich die Kalifornier neu und verliehen ihrer Karriere obendrein einen weiteren Schub. „Bullet in a Bible“, das erste offizielle Live-Album des Trios, ist ein Dokument dieser Entwicklung.
Am 18. und 19. Juni 2005 gastierten GREEN DAY im englischen Milton Keynes (im Vorprogramm tummelten sich u. a. JIMMY EAT WORLD und TAKING BACK SUNDAY) und spielten in der National Bowl an zwei Tagen vor dem bis dahin größten (Festival-unabhängigen) Publikumskreis (in Summe rund 130.000 Zuschauer*innen) ihrer Geschichte. Wie sehr „American Idiot“ das Trio in dieser Periode trieb, veranschaulicht der Beginn: Die ersten 24 Minuten gehören allein dem seinerzeit aktuellen Output. Neben dem Titeltrack werden dabei das aus mehreren Kapiteln bestehende „Jesus of Suburbia“ sowie „Holiday“, „Are We the Waiting“ und „St. Jimmy“ geschmettert.
Wie süffisant Billie Joe Armstrong & Co. den Status der Superstars auskosten, wird abseits politischer Breitseiten (Armstrong während „American Idiot“: „I want you to sing so loud that every fucking redneck in America hears you tonight!“) durch Partizipationsforderungen Richtung Publikum unterstrichen. Aufforderungen zum Massenchoral oder Wiederholungen vorgegebener Heyho-Variationen sind integraler Bestandteil des professionellen Rüstzeugs, führen aber auch hier zum gewünschten, respektive ausschweifenden Ergebnis.
Bemerkenswert ist, wie sehr GREEN DAY das Material durch musikalische Abstecher strecken. Neben dem Monty-Python-Evergreen „Always Look On the Bright Side of Life“ driftet der gewohnte Songverlauf des von (Dixie-)Bläsern geprägten „King For a Day“ zum THE ISLEY BROTHERS-Klassiker „Shout“, der zudem das im Verlauf ihres Werdegangs zunehmend stärker hervorgehobene Faible für altschulischen Rock’n’Roll betont.
Der Mittelteil des Auftritts gehört diversen Singles von „Dookie“ bis „Warning“ (2000), die der Bandmarke bis heute Gewicht verleihen: „Longview“, „Hitchin‘ a Ride“, „Brain Stew“ – leider ohne „Jaded“, das zwar gespielt wurde, wie „Knowledge“, „She“, „Maria“, „Homecoming“ und „We Are the Champions“ auf der CD aber unberücksichtigt blieb –, „Basket Case“, „Wake Me Up When September Ends“, „Minority“. Die wirklich punkigen Kracher bleiben weitgehend ausgespart, im Vordergrund steht offenkundig der rockige Party-Charakter.
Der Ausklang fokussiert schließlich auf die bewährten Schunkel-Hymnen, die GREEN DAY abseits der Punk-Wurzeln zum Szene-übergreifenden Kulturgut avancieren ließen: „Boulevard of Broken Dreams“ und „Good Riddance (Time of Your Life)“. Der Pulk ist spürbar aus dem Häuschen. Die Hörerschaft der Konserve kann es ihm leicht gleichtun. Anteil daran nimmt zweifelsfrei die perfekte Aufnahmequalität. Besser kann ein Live-Album eigentlich nicht klingen. Oder aussehen.
Denn neben der CD wird „Bullet in a Bible“ durch eine DVD komplettiert, die einen auch visuell packenden Eindruck vom Bombast der Show vermittelt (Regie führte Clip-Veteran und Hollywood-Filmemacher Samuel Bayer, „A Nightmare on Elm Street“, 2010). Dabei wird der Auftritt durch eingestreute Interviewschnipsel mit Armstrong, Mike Dirnt und Tré Cool sowie Fankommentare ergänzt. Darüber hinaus enthält der Konzertfilm deutlich mehr Ansagen und Zusammenspiele mit dem Publikum der Band. Bei so viel Umfang (und Klasse) verwundert nicht weiter, dass es „Bullet in a Bible“ international zur fünffachen Platin- und 15-fachen Gold-Auszeichnung brachte. Ein großes Live-Zeugnis einer wahrhaft großen Live-Band!
Wertung: (8,5 / 10)