Der neben „Akira“ wohl einflussreichste Anime ist Mamoru Oshiis „Ghost in the Shell“, der der zunehmenden Popularität der japanischen Comic-Kultur in westlichen Ländern einen weiteren bedeutenden Schub verpasste. Basierend auf dem Manga von Masamune Shirow überwindet Oshii, wie schon bei den „Patlabor“-Filmen, die Form des Trickfilms und etabliert Charaktere, deren erzählerische Ausgestaltung klassischem Erzählkino in nichts nachsteht. Im Zusammenspiel mit herausragenden Animationen und einem philosophischen Kontext wird daraus ein anspruchsvoll verschachteltes Science-Fiction-Opus, das den Wachowski-Brüdern bei der Konzeption ihrer „Matrix“-Trilogie spürbarer Inspirationsquell war.
Die Komplexität des eng an Shirows Vorlage angelehnten Films deutet bereits der internationale Titel an: Als Ghost wird die in organischen Zellen des Gehirns gespeicherte menschliche Persönlichkeit bezeichnet. Die wiederum ist im Handlungsjahr 2029 meist in eine Biokapsel, die sogenannte Shell, gebettet. Durch künstliche Ersatzteile können sich Menschen nach und nach zu Cyborgs umfunktionieren lassen. Selbst das Gehirn kann durch leistungsstärkere Prozessoren in ein Cyberbrain umgewandelt werden. Der Ghost hingegen garantiert den menschlichen Kern in der artifiziellen Hülle.
Als es einem unbekannten Hacker gelingt in die Shells verschiedener (einflussreicher) Personen einzudringen und diese in seinem Sinne zu manipulieren, wird die Geheimdienstorganisation Sektion 9 mit der Aufspürung des Puppet Master genannten Cyberkriminellen beauftragt. Leiterin der Ermittlungen ist Agentin Motoko Kusanagi, deren Körper fast vollständig durch künstliche Teile ersetzt wurde. Sie selbst ist sich nicht mehr sicher, ob sie überhaupt noch menschliche Züge in sich trägt. Gerade das macht auch sie zum potentiellen Ziel für die Attacken des Puppet Master.
Oshii, der auch den klugen Anime-Polit-Thriller „Jin-Roh“ schuf, verbindet dosierte Actioneinlagen mit philosophischen Sinnfragen und der Furcht vor dem Verlust der eigenen Identität. Bei der bildgewaltigen Gestaltung der futuristischen Metropole schöpfte das Studio Production I.G („Neon Genesis Evangelion“) aus dem Vollen und kreiert eine nachhaltig faszinierende Welt, deren schillernde Oberfläche eine zwischen Korruption und Übertechnisierung zerrissenen Gesellschaft verdeckt. Zusammen mit ihrem grimmigen Partner Batou kommt Motoko dem Puppet Master schließlich auf die Spur. Doch selbst das interpretationsfreudige Finale dieses vielschichtigen Trickfilm-Klassikers verwehrt sich konventionellen Mustern mit beachtlicher Konsequenz. Ein zeitloser Zukunftsentwurf, der durch eine Kinofortsetzung, eine TV-Serie sowie einen Fernsehfilm erfolgreich weitergeführt wurde.
Wertung: (8 / 10)