Seit seinem beachtlichen Debüt „Kurz und Schmerzlos“ zählt Regisseur Fatih Akin zu den Wegbereitern einer unabhängigen Subkultur des deutschen Kinos. Mit den eher geradlinigen Folgewerken „Im Juli“ und „Solino“ etablierte der in Hamburg geborene Sohn türkischer Einwanderer den hierzulande arg überstrapazierten Begriff des Autorenkinos als stimmungsvolle Regression an den spröden deutschen Film der 70er- und 80er-Jahre. Für Furore sorgte Fatih Akin im Frühjahr 2004, mit der Aufführung seines jüngsten Projektes „Gegen die Wand“, welches ihm den ersten Goldenen Bären für einen deutschen Beitrag der Berlinale seit Reinhard Hauffs „Stammheim“ aus dem Jahre 1986 bescherte. Für das Oeuvre Akins bedeutet „Gegen die Wand“ jedoch die stilistische Rückführung an seine schöpferischen Wurzeln, die Rückkehr an den kraftvollen Ursprung von „Kurz und Schmerzlos“.
Als der Schmerz seines tristen Daseins nicht mehr in Alkohol versinkt, beschließt der vom Leben enttäuschte Trinker Cahit (Birol Ünel, „Der gestohlene Mond“) einen Schlussstrich zu ziehen. Ungebremst manövriert er sein Auto eines Nachts frontal gegen eine Mauer – und überlebt verletzt. Im Krankenhaus lernt der Deutschtürke die 23 Jahre jüngere Sibel (Sibel Kekilli) kennen. Um dem gestrengen türkischen Elternhaus zu entkommen, hat die junge Frau selbst den Versuch unternommen, sich das Leben zu nehmen. In ihrer Verzweiflung bittet sie Cahit, eine Scheinehe mit ihr einzugehen. Als dieser zögerlich einwilligt, scheint die Rechnung eines planmäßigen Zusammenlebens jenseits ehelicher Normen für einen flüchtigen Augenblick aufzugehen. Als die platonische Fassade jedoch allmählich Risse erhält und sich wahre Emotionen in das Bündnis kalkulierter Gefühlskälte einschleichen, kommt es zur Katastrophe.
Sinnlich und abstoßend zugleich zeichnet Auteur und Gelegenheitsmime Fatih Akin das ungeschönte Portrait zweier verlorener Seelen bei ihrem Balanceakt über dem Abgrund des Lebens. In schroffen, kantig montierten Bildern erhält die mitreißende Suche nach dem Halt im Leben ihren authentischen Feinschliff. Aufwühlend, ohne je in falsche Sentimentalität abzudriften, manifestiert sich die Pein der rudimentär umrissenen Charaktere auf der Leinwand. Dabei deutet Akin zahlreiche Nuancen im Leben seiner Protagonisten nur an, lässt dem Betrachter großzügigen Freiraum für Ansätze eigener Interpretationen. Exzellent besetzt und mit selten erlebter Intensität verkörpert, lassen die grandiosen Akteure die kraftvolle physische Beschaffenheit der Figuren auch für den Zuschauer spürbar werden.
Für Sibel Kekilli bedeutet „Gegen die Wand“ den Durchbruch, obschon die junge Schauspielerin einen hohen Preis für die ihr zugedachte Anerkennung im fahlen Licht des öffentlichen Interesses zahlen musste. In einer für die Taktlosigkeit des investigativen Boulevard-Journalismus stellvertretenden Skandalkampagne demontierte die BILD-Zeitung das Privatleben Sibel Kekillis aufgrund ihrer Vergangenheit als Hardcore-Aktrice. So holte die gefeierte Türkin das Schicksal ihres namensgleichen Charakters aus „Gegen die Wand“ nachträglich ein, als sich ihr Vater im Strudel der von BILD veröffentlichten Enthüllungen von seiner Tochter abwandte.
„Gegen die Wand“ ist Fatih Akins Meisterstück, ein packendes Drama um kulturelle Erniedrigung und familiäre Zwänge, wie gleichwohl eine tragische Geschichte über die unerschütterliche Kraft der Liebe. Weniger repräsentative Fallstudie in Deutschland beheimateter Türken, als vielmehr die bittere Momentaufnahme zweier gestrandeter Existenzen bei ihrem Kampf ums Überleben, besticht der Film durch schonungslose Offenheit und trockenen Sarkasmus. Die herausragende Arbeit von Kameraoperateur Rainer Klausmann („Der Untergang“) erweist sich in diesem Zusammenhang als vortrefflicher Mittler zwischen Medium und Publikum. So ist „Gegen die Wand“ ein Musterbeispiel für die Energie des jungen deutschen Kinos. Ein Film, der den Zuschauer auch nachhaltig in seinen Bann zieht, abgründig und lebensbejahend zugleich.
Wertung: (9 / 10)