Wenn Regie-Exzentriker und Kino-Dogmatiker Lars von Trier („Idioten“) zum künstlerischen Rundumschlag ausholt, dann ist für gewöhnlich Großes zu erwarten. So auch im Falle von „Dogville“, von Triers inhaltlich wie inszenatorisch provokantem Auftakt zu einer geplanten Trilogie über die schroffe Beschaffenheit der amerikanischen Gesellschaft. Das eigentliche Wagnis jedoch bildet weniger die drastische Komponente des Kontextes, als vielmehr der radikale Purismus der einzigartig experimentellen Realisierung. Denn Lars von Trier vereint eine stattliche Anzahl hochkarätiger Hollywood-Gardisten vor der Kamera und lässt dieses grandiose Ensemble in theaterhaftem Ambiente über die architektonische Blaupause aufgemalter Grundrisse stolpern.
Die Spielwiese des Regisseurs, das verschlafene Bergnest Dogville, misst dabei rund 300 Quadratmeter. Bis auf einige wenige Fassaden oder Requisiten gibt es nichts zu sehen, lediglich zu erahnen. Selbst die Pflanzen, die Büsche und Bäume und sogar der Hund des Örtchens existieren einzig als weiße Konturen auf dem schwarzen Boden, oder wenn überhaupt als Rascheln, als Bellen aus dem Off des finsteren Studios. Denn auch außerhalb Dogvilles, jenem fiktiven Städtchen in den Rocky Mountains zur Zeit der großen Depression, herrscht Schwärze. Der Sichtpunkt bleibt stetig auf den knapp bemessenen und spärlich beleuchteten Kreis markierter Gegebenheiten fokussiert. In diesen stürzt eines Abends die rätselhafte Schöne, Grace (Nicole Kidman, „The Hours“), von Gangstern verfolgt und in Dogville Schutz suchend.
Als eine Art Experiment der Akzeptanz Außenstehender überzeugt der Dichter Tom (Paul Bettany, „Master and Commander“) seine ärmlichen, doch rechtschaffenden Nachbarn davon, der Fremden eine Chance der Integration einzuräumen. Die anfängliche Angst und die spürbare Reserviertheit gegenüber Grace schlagen im Angesicht ihres offenherzigen Charakters schon bald in Hilfsbereitschaft und Freundschaft um. In ihrem Streben nach Anerkennung wird die Auswärtige im Kreise dieser einfachen Menschen schon bald als funktionaler Teil der Gemeinschaft akzeptiert. Doch mit jedem Tag von Graces Aufenthalt in Dogville wächst die Gefahr für die Einwohner, werfen die langen Schatten von Polizeikräften und spionierenden Gangstern doch unheilvolle Geschehnisse voraus. Als die Bewohner erkennen, dass sich aus der Notlage des Gastes vortrefflich Kapital schlagen lässt, bricht über Grace die Hölle herein.
Im Zeitalter der Computertechnik und den daraus resultierenden Möglichkeiten für das Medium Film erscheint die Reflexion des Mikrokosmos „Dogville“ wie eine mutige Reduktion des Kinos, eine experimentelle Besinnung auf narrative Kernstücke, die Wurzeln der Erzählkunst. Diese Form der Regie mag schwer zugänglich erscheinen, verworren und exzentrisch, wie das Ränkespiel eines verrückten Provokateurs. Sicher, es bedarf einiger Vorstellungskraft und Fantasie, sich auf diesen wagemutigen und revolutionären Versuch der Inszenierung einzulassen, doch gelingt Lars von Trier wahrhaft meisterlich das Kunststück, diese brodelnde Eiterblase abgründiger Menschlichkeit glaubhaft zu durchleuchten. Nach einer gewissen Periode der Gewöhnung blockiert das Konzept im Geiste des Betrachters nicht mehr Realitätsnähe und Glaubwürdigkeit und übergibt die Entfaltung der Geschichte in die Obhut der brillanten Darsteller.
Neben Nicole Kidman, die einmal mehr auf höchst eindrucksvolle Weise mit dem von ihr verkörperten Charakter fusioniert, und Paul Bettany garantieren Philip Baker Hall („Magnolia“), Lauren Bacall („Der Shootist“), Ben Gazzara („The Big Lebowski“), Patricia Clarkson („Pieces of April“), Chloe Sevigny („Boys Don‘t Cry“), Jeremy Davies („Secretary“), Jean-Marc Barr („Dancer in the Dark“), Udo Kier („Andy Warhol‘s Dracula“) und James Caan („Der Pate“) darstellerische Leistungen auf höchstem Niveau. Doch ist „Dogville“ nicht nur im Hinblick auf Schauspielkunst und konzeptionelle Umsetzung ein absolutes Faszinosum, sondern obendrein eine nihilistische Parabel, eine bittere Allegorie auf perfide Moralvorstellungen und das Schlechte in der Seele eines jeden Menschen.
Dabei seziert Lars von Trier den kränklichen Kreis seiner Protagonisten erneut aus dem Blickwinkel der opferbereiten Frauenfigur, doch weiß Nicole Kidman im Gegensatz zu Emily Watson („Breaking the Waves“) und Björk („Dancer in the Dark“) am Ende den Spieß umzukehren und der ihr bescherten Hölle aus Demütigung und Pein, Vergewaltigung und Sklaverei einen ebenbürtigen Kanon der Rache gleichzusetzen. Über eine Spielzeit von 170 nüchtern erzählten Minuten folgt Lars von Trier dem schier unvermeidlichen Schicksal der Figuren und entfaltet es zu einem intensiven und fesselnden Ereignis. Nicht zuletzt aufgrund der unbequemen und düsteren Aussage gehört das innereuropäisch Co-produzierte Psycho-Drama zum Gewagtesten und Besten, was es seit langem auf der großen Leinwand zu bestaunen gab.
Wertung: (9 / 10)