Das Waisenhaus (E/MEX 2007)

das-waisenhausDie Schnelllebigkeit des zeitgenössischen Kinos verlangt nach Effekten. Es ist das Prinzip von „höher, schneller, weiter“, der vordergründigen Reizbefriedigung und des formelhaften Minimalismus. Geschichten zählen längst nicht mehr, an ihrer Statt streben Action und Gewalt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Insbesondere beim Horrorfilm, dem die Subtilität vergangener Tage Stück für Stück abhanden kommt und nur noch selten nach klassischem Muster an die Oberfläche dringt. „The Sixth Sense“ ist solch ein seltenes Beispiel. „The Others“ ein anderes.

Als ähnlich bemerkenswert erweist sich das spanische Grusel-Melodram „Das Waisenhaus“, produziert vom visionären Kult-Regisseur Guillermo del Toro („Pans Labyrinth“). Die Inszenierung besorgte Juan Antonio Bayona, ehemals Musikclip-Macher, dem solches Feingefühl wohl nur die wenigsten zugetraut hätten. Doch mit leiser Zurückhaltung und viel Raum für die Hauptfigur erweist er sich als die optimale Wahl. Gleiches gilt für Darstellerin Belén Rueda („Das Meer in mir“), die als vor Sorge um den spurlos verschwundenen Sohn verzweifelnde Mutter eine der intensivsten und ergreifendsten Performances seit langem bietet.

Schauplatz der Handlung ist ein altes Waisenhaus, in dem auch Laura (Rueda) aufwuchs. Jahrzehnte später erwirbt sie das Anwesen mit ihrem Gatten Carlos (Fernando Cayo, „El Lobo – Der Wolf“), um daraus ein Heim für behinderte Kinder zu machen. Der gemeinsame Sohn Símon (Roger Príncep), dem die Adoption und die HIV-Infizierung verschwiegen werden, scheint rasch seine Neigung zu imaginären Freunden auszubauen. Gleich sechs neue habe er hinzugewonnen, die ihn obendrein zu ausgeklügelten Suchspielen anspornen. Doch dann, bei der Eröffnung des Heims, wird Laura von einem maskierten Kind attackiert. Fortan fehlt von Símon jede Spur.

In gemächlichem Erzählrhythmus taucht Bayona in die Leiden Lauras ein. Ihr Gatte bleibt eine Randfigur, schließlich ist er als Mediziner der Rationalität verbunden und den übernatürlichen Ahnungen seiner Frau gegenüber skeptisch aufgestellt. Das Unheimliche, heraufbeschworen durch langsame Kamerafahrten im weitläufigen Haus, knarzende Dielen und Kurzauftritte einer undurchsichtigen Schrulle, ist Träger der knisternden Spannung, steht vorrangig aber im Dienste des Familiendramas. Auf Blut und Effekte setzt der Film nur am äußersten Rand. Dafür wird der durchdachte Plot in all seinen angerissenen Facetten aufgenommen und zu einem ungemein dichten Ganzen verwoben.

Neun Monate nach dem Verschwinden des Jungen öffnet Laura Augen und Ohren für das Paranormale. Dessen Grundstock liegt, wie gehabt, in der Vergangenheit begraben und führt auf die Spur eines schrecklichen Verbrechens. Neu ist die Sammlung klassischer Motive nicht. Die Geisterbeschwörung mit Medium Geraldine Chaplin („Sprich mit ihr“), die Ahnung der ruhelosen Toten, entsprechen jedoch mehr der Hommage als dem Ideenklau. „Das Waisenhaus“ steckt voller Andeutungen, versteckter Hinweise und – allen voran – einer tiefen Traurigkeit. In seiner Mischung ausgewogen, frei von Klischees und ergreifend gespielt, bleibt so ein schlichtes und schlichtweg großartig gegen die Explikation der Gegenwart gestemmtes Werk. Und damit eine wohlige Ausnahme durch und durch.

Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

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