„We gotta get out there and we gotta find these motherfuckers before they do this to somebody else.“ – Tommy Saunders
Wenn Kino den Anspruch erhebt, die Rekonstruktion realer Ereignisse mit größtmöglicher Authentizität vornehmen zu wollen, ist Skepsis angebracht. Denn das Medium Film dient in erster Linie der Unterhaltung und bleibt somit spezifischen Regeln unterworfen, die nicht durchweg mit der Wirklichkeit vereinbar sind. Eine davon besagt, dass dem Publikum eine Identifikationsfigur gegenübergestellt werden sollte, aus deren Perspektive durch die Handlung geführt wird. Bei der Aufarbeitung des Bombenanschlags auf den Bostoner Marathon am 15. April 2013 ergab sich für die Drehbuchautoren das Problem, dass sich aus der diffusen Masse beteiligter Einsatzkräfte kein Hauptprotagonist hervorheben ließ. Also wurde in symbolträchtiger Manier kurzerhand einer erfunden.
Der heißt Tommy Saunders, ist Polizist mit Leib, Seele, Frau (Michelle Monaghan, „Source Code“) und lädiertem Knie und stellt in „Boston“ das Bindeglied zwischen Orten und Personen. Gespielt wird er vom auch produzierenden Mark Wahlberg, der nach „Lone Survivor“ (2013) und „Deepwater Horizon“ (2016) bereits zum dritten Male mit Regisseur Peter Berg kooperiert, um wahre Begebenheiten nach Blaupause des modernen Kinos auf die Leinwand zu bringen. Das funktioniert überzeugend – hier durch den zeitweilig tatsächlich dokumentarischen Charakter sogar besser als bei den Vorgängern –, lässt die kreative Freiheit des fiktiven Saunders darüber aber nicht weniger unnötig erscheinen. Denn faktisch benötigt der Film keine charakterliche Klammer, die in bedingt glaubhafter Manier zufällig stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort auftaucht.
Anlass zur Kritik gibt auch die in den ersten 20 Minuten im Stile herkömmlicher Katastrophenfilme vollzogene Vorstellung verschiedener Figuren. Manche davon bleiben relevant, etwa der von J.K. Simmons („Whiplash“) verkörperte Sergeant Jeffrey Pugliese, der in der nahe Boston gelegenen Stadt Watertown in einen wüsten Schusswechsel mit den beiden tschetschenisch-stämmigen Attentätern verwickelt wird. Oder der chinesische Student Dun Meng (Jimmy O. Yang, „Silicon Valley“), der von den flüchtenden Brüdern entführt wird. Andere wiederum wirken eher wie emotionales Füllmaterial, beispielsweise Rachel Brosnahan („House of Cards“) als Opfer des Anschlags. Die offensichtlichen Makel lassen sich jedoch leicht ausblenden. Das liegt vorrangig an der packenden Inszenierung, sei es beim durch Originalaufnahmen gestützten Sprengstoffattentat oder der erwähnten Schießerei auf offener Straße.
Der dokumentarische Anstrich kommt zum Tragen, wenn das FBI unter Leitung von Richard DesLauriers (Kevin Bacon, „The Following“) in einer eilig eingerichteten Lagerhalle unter enormem Zeitdruck Spuren und Kameraaufnahmen auswertet. Dabei profitiert Peter Berg auch davon, dass gestandene Akteure wie Bacon oder der als Polizeichef Ed Davis in Erscheinung tretende John Goodman („Argo“) trotz überschaubarer Präsenz darstellerische Akzente setzen. Die von Themo Melikidze („24: Legacy“) und Alex Wolff („In Treatment“) verkörperten Brüder Tsarnaev, die Behörden und Bevölkerung bis zum 19. April in Atem hielten und insgesamt vier Menschen töteten, erhalten ebenfalls ausreichend Raum, werden ungeachtet ihrer menschenverachtenden Motivation jedoch weitgehend nüchtern betrachtet. Ganz ohne Pathos kommt Berg zwar auch in „Boston“ nicht aus, als zeitgeschichtliches Dokument erscheint das an den richtigen Stellen zurückgenommene Thriller-Drama ungeachtet seiner hinzugedichteten Hauptfigur aber mehr als adäquat.
Wertung: (7 / 10)