Die moderne US-Serienkultur ist ein Phänomen. Früher Abziehbild vornehmlich konservativer und moralisch blütenweißer Wertvorstellungen, hat sich die Typisierung von Figuren und Geschichten seit den späten Neunzigern radikal gewandelt. Erfolgsserien wie „Oz“, „Sopranos“ oder „The Shield“ bedeuteten die Abkehr von kleinbürgerlichen Milieus und unbedingtem Identifikationspotenzial. Im Spartenprogramm kaum unterzubringen, etablierten sich Bezahlsender zum Erfolgsmodell, die mit Konventionen brachen und die Qualität eines TV-Konzeptes nicht allein an Quoten maßen. Heute haben Reihen wie „Breaking Bad“, „The Walking Dead“ oder „Boardwalk Empire“ mindestens zum Kino aufgeschlossen und stellen für die auf schnelllebige Erfolge ausgerichtete Filmwirtschaft Hollywoods eine ernstzunehmende Konkurrenz im Werben um die Gunst des Publikums dar.
Unterstrichen wird dies auch durch „Banshee“, ein munter Geschmacksgrenzen überschreitendes „Sex and Crime“-Drama, mit dem der zu HBO gehörende Premiumkabelsender Cinemax seinen bislang größten Erfolg feierte. Kreiert von Jonathan Tropper und David Schickler, dreht sich der eigentümlich mit Klischees aus Actionfilm und Gangster-Thriller spielende Plot um einen zunächst namenlosen Ex-Sträfling (Antony Starr, „Outrageous Fortune“), den es nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in die Kleinstadt Banshee im ruralen Pennsylvania verschlägt. Die dort ansässige Amish-Gemeinde ist ebenso integraler Teil der Region, wie ein Indianerreservat und eine Nazi-Siedlung. Doch an ihnen hat der 15 Jahre auf seine Freilassung gewartete Verbrecher (zunächst) kein Interesse.
Sein Ziel ist Carrie (Ivana Miličević, „Running Scared“), ehemals große Liebe und Komplizin eines folgenschweren Raubzugs. Denn mit ihr, die eigentlich Anastasia heißt, hat er den gefürchteten ukrainischen Mafia-Boss Rabbit (Ben Cross, „Star Trek“) bestohlen. Aber die Aktion ging schief und damit Anastasia fliehen konnte, stellte er sich der Polizei. Dass Rabbit Anastasias Vater ist, gestaltet die Sache nicht weniger prekär. Vor allem für den Gefassten, der im Knast (u.a. durch Beteiligung eines schwulen Albino-Hünen!) die Hölle auf Erden durchlebt. Die unter falschem Namen Untergetauchte allerdings ist wenig begeistert, derart unsanft von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden. Immerhin hat sie zwei Kinder und ist mit Bezirksstaatsanwalt Gordon Hopewell (Rus Blackwell, „World Invasion: Battle Los Angeles“) verheiratet.
Doch ihr einstiger Partner denkt gar nicht daran, ihrer Forderung nachzukommen und das Weite zu suchen. Als er in der Bar des ehemaligen Boxchampions Sugar Bates (Frankie Faison, „The Wire“) in einen Zwist des neuen Sheriffs und zweier Handlanger des Provinz- und Fleischerei-Paten Kai Proctor (Ulrich Thomsen, „The International“) gerät, gibt es Tote. So schlüpft der ziellose Fremde ohne Namen in die Haut des ermordeten Gesetzeshüters und macht sich fortan als Sheriff Lucas Hood einen Namen. Was er damit bezwecken will, ist ihm selbst wohl nicht ganz klar. Für den Zuschauer und insbesondere die Bewohner von Banshee jedoch bedeutet die folgende Charade die Vorstufe eines politisch unkorrekten Orkans aus freizügigem Soxftsex und expliziter, nicht selten gegen Frauen gerichteter Gewalt.
Was die Macher (als Produzent tritt Alan „True Blood“ Ball in Erscheinung) im Verlauf der 10 Episoden der ersten Staffel – man beachte neben den sich ändernden Vorspannfotos eine jedem Abspann nachstehende Szene – in Sachen Exploitation auftischen, hätte deutschen Sittenwächtern früher schwere Kopfschmerzen bereitet. Denn Hood nimmt die neue Aufgabe ernst, nicht selten weit über die Schmerzgrenze hinaus. Das folgt mit Anleihen bei klassischen Kleinstadt-Actionstoffen wie „Walking Tall“ nur scheinbar altbekannten Mustern. Die Figuren nämlich erweisen sich trotz dezent comichafter Note – was insbesondere auf Hoods alten Kumpan, den transsexuellen Koreaner Job (Hoon Lee, „Premium Rush“) zutrifft – als überzeugend ausgestaltet. Hood geht zwar stets dahin, wo es wehtut und kommt rasch mit dem verstoßenen Amish Proctor in Konflikt, darf in quälenden Erinnerungen an den Gefängnisaufenthalt aber ausreichend verletzliche (und physisch verletzte) Seiten offenbaren.
Über den ambivalenten Hauptcharakteren werden zahlreiche Konflikte ausgeschüttet, so dass bald jeder mit jedem entweder ins Bett steigt oder in wüste Auseinandersetzungen verstrickt wird. Hood vögelt sich durch die weibliche Bevölkerung – inklusive Proctors Nichte Rebecca (Lili Simmons) – und hegt bald den Verdacht, Carries rebellische Teenagertochter Deva (Ryann Shane) könnte sein Kind sein. Proctor hingegen stürzt sich in einen Machtkampf mit Indianerführer Alex Longshadow (Anthony Ruivivar, „Southland“). Doch auch Rabbit hält mit schwer bewaffnetem Gefolge bleihaltigen Einzug in Banshee. Selbstzweckhaft ist die mit grimmigem Humor gewürzte Serie fraglos und manche Zwischenplots (der Angriff der Motorrad-Gang, der zusammenhanglose Museumseinbruch) bleiben dürftig ins Gesamtgefüge integriert. Insgesamt aber macht „Banshee“ als respektloses Potpourri aus harscher Gewalt und (etwas ermüdender) Freizügigkeit nicht allein Eindruck, sondern auch mächtig Laune.
Wertung: (8 / 10)