An Inspector Calls (GB 2015)

Eine junge Frau begeht Selbstmord. Sie stammt aus der Unterschicht. Wesentlich ist diese Information vor allem im Zusammenspiel mit der Jahreszahl 1912. Denn die gesellschaftliche Kluft in dieser Zeit war enorm, eine Aufstiegschance für die oft in Armut lebende Arbeiterklasse praktisch ausgeschlossen. Macht und Reichtum wurden von denen verteidigt, die reichlich davon hatten. Soziale Grundsicherung und die gewerkschaftliche Vereinigung von Arbeitern waren von ihrer heutigen Ausprägung schier unendlich weit entfernt.

Wie wenig die Oberschicht ihrer gesellschaftlichen Verantwortung potentiell gerecht wird, beleuchtete der sozialistische englische Autor John Boynton Priestley in seinem bereits 1945 verfassten Bühnenstück „An Inspector Calls“. Der erfolgreichen Theaterauswertung folgte 1954 die erste Verfilmung (von „Goldfinger“-Regisseur Guy Hamilton). Eine zweite wurde 1982 produziert. Die von Aisling Walsh („A Poet in New York“) 2015 umgesetzte dritte (TV-)Adaption unterstreicht die Zeitlosigkeit des Stoffes. Die Anprangerung der Mächtigen, in weiten Teilen der strengen Reduktion der Vorlage folgend, vereint nicht allein ein sehenswertes Ensemble, sondern gibt der im Stück nur über Erzählungen figurierten Selbstmörderin Eva Smith (Sophie Rundle, „Peaky Blinders“) auch ein Gesicht.

Die Handlung entspinnt sich an einem einzigen Abend, in der Hauptsache in einem einzigen Raum. Der, im herrschaftlichen Anwesen der wohlhabenden Unternehmerfamilie Birling verortet, sollte eigentlich ein Hort der Freude sein. Angestoßen wird auf die Verlobung von Tochter Sheila (Chloe Pirrie, „Krieg und Frieden“) mit Gerald Croft (Kyle Soller, „Poldark“). Für Familienoberhaupt Arthur (Ken Stott, „Der Hobbit“) ist die geplante Hochzeit aber nicht nur ein emotionales Ereignis, sondern bringt auch wirtschaftliche Vorteile mit sich. Jäh unterbrochen werden die Feierlichkeiten durch Inspektor Goole (David Thewlis, „Macbeth“), der die Hintergründe von Evas Suizid beleuchtet.

Dabei gleitet die Befragung des konstant lenkenden, nahezu allwissend erscheinenden Polizisten von einem Anwesenden zum nächsten. Vater, Tochter, Mutter Sybil (Miranda Richardson, „Slepy Hollow“), Sohn Eric (Finn Cole, ebenfalls bekannt aus „Peaky Blinders“) und gar der Bräutigam in spe, sie alle hatten mehr oder weniger intensive Kontaktpunkte mit Eva, die ihre Misere durch gekränkte Eitelkeit, machtpolitisches Kalkül, amouröse Liaison oder verweigerte Hilfeleistung kontinuierlich verstärkt haben. Mit dramatischer Konsequenz.

Dass Eva in dieser Interpretation des Stoffes ein Gesicht erhält, mag Gooles Ausführungen emotional größeres Gewicht verleihen. Im Gegenzug konterkariert dieser erzählerische Ausbruch aus dem kammerspielartigen Verhör der Familie Birling aber auch ein wesentliches Merkmal des Bühnenstücks: das Spiel mit dem Zweifel, ob es sich beim ausschlaggebenden Suizid-Opfer nicht um mehrere, völlig losgelöst voneinander zu betrachtende Personen handelt. Davon abgesehen bietet „An Inspector Calls“ exquisit besetztes und sehenswert verkörpertes Heimkino, dessen allegorischer Charakter eine nachhaltige Beschäftigung fast automatisch einschließt.

Wertung: 7.5 out of 10 stars (7,5 / 10)

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