Warum nur tut man sich das immer wieder an? Wochenendfreiluftfestivals, bei denen das Wetter zwischen Regenarmageddon und Hitzschlag großmütig Extreme bedient, der Schmutz aus allen Poren sickert und volltrunkene Prolls das Campinggelände mit ihren Rufen nach „Helga“ beherrschen. Ja, auch auf dem Hurricane 2007 wollten sie nicht verstummen. In den letzten 10 Jahren hat sich auf den Freiflächen der Republik nicht viel verändert. Noch immer sind die Dixi-Toiletten gnadenlos vollgekackt, malträtiert oder gleich ganz umgeworfen. Noch immer watet man knietief durch Abfallhaufen aus Bierdosen, Verpackungsmaterial und Konserven. Noch immer verkleben die Pizza Mario-Franchises mit ihren Fett aufgesogenen Hefeteigklötzen – diese Frankensteinschöpfung des Fast Food wird vollmundig Calzone genannt – die Eingeweide. Aber zumindest bewahrt es vor den mit Scheiße beschmierten Kunststoffbauklos. Der Pöbel besoffen, die Musik laut, das Essen überteuert. Kurzum: Man muss es einfach lieben.
Die Veranstalter schüttelten sich im Vorfeld einen klangvollen Namen nach dem anderen aus dem Ärmel: THE GOOD, THE BAD AND THE QUEEN, PLACEBO, INTERPOL, QUEENS OF THE STONE AGE, AEOGRAMME, DEICHKIND, THE BLOOD BROTHERS, JET, MODEST MOUSE, MANIC STREET PREACHERS… Sie alle gingen aus dem einen oder anderen Grund am Schreiber dieser Zeilen vorbei. Aber das kaum zu erschöpfende Füllhorn populärer Musikgruppen und Künstler schien nicht zu versiegen, so dass noch immer mehr als genug zu berichten bleibt. Das beginnt bei den Headlinern, solch brillanten wie den BEASTIE BOYS oder PEARL JAM, die den bald zweistündigen Ausklang am Sonntagabend mit Tempo und erlesener Songauswahl zum echten Erlebnis machten, immer gern gesehenen wie den FANTASTISCHEN VIER oder überschätzten wie MARILYN MANSON. Die Performance des Schock-Rockers am späten Samstagabend war mit Aufwand vorbereitet, musikalisch aber nicht mehr als das unbefriedigende Abspulen selten Begeisterung erzeugender Klangwälle.
Aber zurück zu den namhaften Höhepunkten: Die BEASTIE BOYS waren einer der Trümpfe des Festivals. Das weitgehend von Akustiktracks beherrschte Programm ihrer Europatour blieb nur in Grundzügen erhalten. Dafür zeigten die Jungs eindrucksvoll ihre Wurzeln im Punk auf. Das Set war überragend, von „No Sleep Till Brooklyn“ über „Sure Shot“, „So What’cha Want“ und „Intergalactic“ bis hin zum gefeierten „Sabotage“ waren viele der zeitlosen Klassiker vertreten. An den Plattentellern sorgte Mixmaster Mike für schiere Verzückung. Allein die extraordinären Scratchsoli ließen zu Hauf erstaunte Gesichter zurück. Das Zusammenspiel von Darbietung und Technik erwies sich als exzellent, was auf den Großleinwänden abgespielte Visuals und Kameratüfteleien zu untermauern wussten.
Vorangehend traten DIE FANTASTISCHEN VIER auf, was in Vorbereitung auf das oben beschriebene New Yorker Trio überzeugte, auf den Status der Schwaben fokussiert aber etwas enttäuschte. Das lag insbesondere am Set, das in weiten Teilen aus Beiträgen der beiden letzten Alben bestand. Viele der Klassiker wurden schlicht außer Acht gelassen, selbst wenn „Der Picknicker“ und „Populär“ für kurzzeitige Entschädigung sorgten. Klangbild und Darbietung ließen keinen Raum für Kritik, nur griff die Stimmung nicht so um sich, wie es im Vorfeld möglicherweise zu erwarten gewesen wäre. Trotz Soundmängeln überzeugten hingegen BLOC PARTY, die am voranschreitenden Samstag mit angenehm reduzierter Präsenz und allen Hits ein Hoch auf den britischen Indie-Rock zum Besten gaben. Zuvor lag selbige Bürde bei ARCADE FIRE, die ihren bleibenden Eindruck allerdings dem mitgebrachten Orchester verdankten.
Reges Treiben gab es auch von der kleineren der zwei Freiluftbühnen zu vermelden. Das die dritte Stage beherbergende Coca Cola-Zelt hinterließ aufgrund der mitunter bescheidenen Klangverhältnisse, des meist gravierenden Andrangs und der schlechten Luft indes eher durchwachsene Eindrücke. Also zurück zur Frischluft und dem von LA VELA PUERCA angefachten Sonntagsprogramm. Die Ska-Fraktion aus Uruguay sorgte für beste Laune und schaffte es sogar, ihr Programm ohne störenden Regen zu absolvieren. Die Akustik war famos, die Spielfreude ebenso. Gleiches galt für Juliette Lewis und ihre LICKS, die schnörkellos nach vorn rockten und auch auf Attitüdenpflege wenig Rücksicht nahmen. Die Lewis, hautp- oder mittlerweile nebenberuflich Hollywoodstar, schmückte ihre Haarpracht im Indianerstil, schwatzte nur, wenn es angebracht war, und präsentierte ihr nölendes Organ im Stile einer echten Rockröhre. Kurzum: Eine prächtige Vorstellung zum Nachmittagsbier.
LESS THAN JAKE waren die nächsten im Bunde. Der Sound des kalifornischen Ska-Punks gab sich durchwachsen, viele Songs im Tempo reduziert. Dennoch war das Programm gewohnt launig, mit Tracks wie „My Very Own Flag“, „Automatic“ und „Look What Happened“ überdies ansprechend bestückt. Das Gespann verfügte mit einer guten Stunde Festivalpräsenz über ausreichend Zeit, so dass die Späße mit dem Publikum die Gemüter erhellten. Ein Rauschebartträger wurde zur Begutachtung aller Anwesenden auf die Bühne gebeten, damit sich via Leinwand auch jeder an seiner Gestalt ergötzen konnte, zwei weitere Gesellen wurden zum Wetttrinken geladen. Vergnügen pur, wenn Anspruch auch denkbar anders aussieht. ME FIRST AND THE GIMME GIMMES, das Allstar-Coverprojekt des US-Punk-Rock, entpuppte sich bei aller Befürchtungen, solchen wie akuter Alkoholismus und miserable Akustik, als schieres Highlight. Der Fünfer gab sich Stocknüchtern, was am Fehlen von NOFX-Frontmann Fat Mike gelegen haben muss, der vom Bandkollegen Eric Melvin tadellos vertreten wurde.
Sänger Spike, mit Stetson und 80´s-Sonnenbrille, gab den Sheriff – inklusive Stern mit eingestanztem Bandnamen – unter den einmal mehr als Cowboys kostümierten Musikern. Die faselten zwar wieder allenthalben Unsinn, blieben allerdings verhältnismäßig zahm. So musste es der Running Gag jener Ankündigung, der nächste Song wäre eine Coverversion, richten. Wahlweise auf Deutsch oder Englisch. Überhaupt sprach Spike nicht nur überraschend viel, sondern insbesondere erstaunlich gut die (auch) für Amerikaner so schwierige Sprache – zum Vergleich sei der gestammelte Versuch von PEARL JAM-Sänger Eddie Vedder erwähnt, zum Abschluss eine Danksagung an alle Festivalbesucher zu verlesen –, die ihn nicht davon abhielt den klassischen Chanson „Unter der Laterne“ vorzutragen. Und weil anbei auch der Sound nahe der Extraklasse rangierte (das Set sowieso), zauberten die in rasante Punk-Kracher umfunktionierten Klassiker des Pop und Country auch Unkundigen ein Lächeln aufs Gesicht.
Wären DEICHKIND nicht in letzter Sekunde dem finalen Slot im Zelt entronnen und zum spontanen Headliner der zweiten Bühne avanciert, so hätten die DROPKICK MURPHYS den Deckel des „kleinen“ Programmes markiert. Die Truppe von der US-Ostküste zog ein überraschend breites Publikum an, was angesichts ihrer mitunter zwiespältigen politischen Statements, insbesondere hinsichtlich der Conservative Punk-Bewegung, etwas verwundern mag. Auf pathetische Ansagen wurde aber dankbarerweise verzichtet, so dass die Mischung aus Oi-Punk und Hardcore mit der gewissen folkloristischen Note weitreichenden Zuspruch erhielt. Mögen muss man die Band nicht. Dennoch sollte man ihnen zugute halten, dass sie ihr Publikum fest im Griff haben. Wenige Stunden zuvor hatten die avantgardistischen Rock-Alteisen SONIC YOUTH die große Stage erschüttert. Mit musikalischer Finesse und der bezaubernden Kim Gordon am Bass, jedoch weniger Feuer als es ihr legendärer Ruf vorausgetragen hätte. Gediegene Langeweile auf technisch hohem Niveau. Nicht weniger, leider aber auch nicht mehr.
Eine weitere Genusskapelle stellten Steve Wilson und PORCUPINE TREE. Ihr progressiver Rock verfügt wahrlich über besondere Klasse, musikalisch virtuos, atmosphärisch verspielt. Sie besannen sich auf das Wesentliche, die Musik, sprachen wenig und überließen den Instrumenten das Feld. Der Sonntagnachmittag hätte bei allen spärlich aufziehenden Regenwolken kaum trefflicher untermalt werden können. Dem gegenüber stand so manche durchwachsene Kapelle, INCUBUS beispielsweise. Bereits am Samstagabend zogen sie unter weitreichender Berücksichtigung ihrer jüngsten Erzeugnisse alle Register ansehnlichen, dabei allerdings kaum begeisternden (Alternative-)Rocks. Auch THE SOUNDS und ihren Retro-Rock mit Orgel und Frauenstimme durfte man in kleinerem Rahmen schon überzeugender erleben, was (sicher) auch auf SNOW PATROL und ihren überschätzten Säusel-Rock zutraf.
Das Paket mehr oder weniger namhafter Bands war stramm geschnürt. Fast könnte man behaupten, es wären zu viele der jungen und alten Chartsvertreter aufgelaufen. Aber der Independent, oder das, wofür ihn die Industrie hält, war ja ausreichend vertreten. Und wäre in den Umbaupausen nicht ständig Werbung (immerhin auch der Trailer zum „Simpsons“-Kinofilm) über die Leinwände geflimmert sowie Regencapes bekannter Telefonanbieter das Sichtfeld eingenommen, man hätte glatt den Eindruck eines nur bedingt an die kommerzielle Melkmaschinerie angeschlossene Festivalität erhalten können. Sicherheitspersonal und Polizeikräfte zeigten stetige Präsenz, standen aber nie auf Füßen, wo es nicht erforderlich gewesen wäre. Gekifft und gesoffen wurde wie immer, bei aller individualistischen Selbstzerstörung blieb der Pulk aber überwiegend friedlich. Der Regen machte es nicht immer zum Freudenfest, doch war auch das nunmehr 11. Hurricane ein Event, an den man sich gern zurückerinnert. Also bis zum nächsten Jahr. Denn für manchen Scheiß ist man eben nie zu alt.