Gemessen am Line Up, das war bereits im Vorfeld klar, konnte das Groezrock 2009 die letztjährige 17. Ausgabe des Belgischen Vorzeige-Festivals unmöglich überbieten. Trotzdem hatten sich die Organisatoren alle Mühe gegeben und ein Potpourri reizvoller Bands aus verschiedenen Teilen des Independent zusammengetrommelt. Aus den Augen verloren sie dabei jedoch die Anpassung der örtlichen Gegebenheiten an den Rekordandrang. Ein Blick auf den Campingplatz offenbarte schon früh heilloses Chaos und vermittelte eher das Gefühl eines Internierungslagers denn gediegener Freiluft-Atmosphäre.
Noch weit schlimmer kam es am Einlass. Um an sein Festivalbändchen zu gelangen, musste man erst eine geschlagene Stunde dicht an dicht gedrängt ausharren, ehe die spärlichen Durchgänge mehr als nur Besuchertropfen in einen verzichtbaren Vorraum lotsten. Doch selbst dessen maßlose Überfüllung hielt das sichtlich überforderte Personal mitnichten davon ab, plötzlich immer mehr Menschen Einlass zu gewähren. Glücklicherweise wurde im gequetschten Mob, der nach vorn und hinten schwankte wie eine Jolle im Seesturm, niemand (ernsthaft) verletzt. Freundlich ausgedrückt: Für das nächste Jahr besteht Optimierungsbedarf.
Anlass zur Verstimmung gab partiell auch das Publikum. Der hohe Anteil deutscher Besucher fiel bereits durch den erhöhten Prollfaktor auf. Ob nun mitten im Konzertzelt in die Menge gepisst wurde oder standesgemäß volltrunkene Spaßprügeleien regelmäßig in die rüde Einbeziehung Unbeteiligter mündeten, wer aus der Bundesrepublik angereist war, schien in der Ausschweifung bemerkt werden zu wollen. Am besten gelang das wieder den Kostümierten. Die bärtige „Lady“ und das komplette „A-Team“ hatten die Sympathien an diesem Wochenende klar auf ihrer Seite.
Musik gespielt wurde natürlich auch. Der verzögerte Einlass ließ das Erleben der mit Spannung erwarteten Hardcore-Supercombo UNITED NATIONS (mit THURSDAY-Sänger Geoff Rickley am Mikro) immerhin noch zur Hälfte zu. Und die viel diskutierten Krachschläger rissen das mittlere Zelt (erstmals wurden die Künstler auf drei Bühnen verteilt) standesgemäß ab, was bei Songs wie „Resolution #9“ oder „Model UN“ auch nicht weiter schwer fiel. Ansonsten stand der eröffnende Freitag mehr im Zeichen des Emo-Core bzw. Metal-Core, wofür neben Headliner BULLET FOR MY VALENTINE auch Bands wie ESCAPE THE FATE, BRING ME THE HORIZON oder TAKING BACK SUNDAY standen.
Die Letztgenannten enttäuschten auf der großen Stage. Das Set ließ relevante Hits aus und servierte andere („Cute Without the E“) erschreckend kraftlos. Das taugte höchstens als Gegenentwurf zum Soll-Zustand eines Outdoor-Festivals. Die Songs des letzten Albums (u.a. „Make Damn Sure“, „Liar“, „Error: Operator“) wirkten ähnlich zahnlos wie neues Material. Wenn sich da nix tut, haben die Jungs als Headliner demnächst nichts mehr verloren. Ähnlich unbefriedigend präsentierten sich SENSES FAIL, die aber noch nie zu den besten Live-Bands auf dem Planeten zählten. Songs gab es vor allem von den letzten beiden Alben („Sick or Sane“, „Lungs Like Gallows“), wobei ihr Auftritt eben nichts Besonderes darstellte. Etwas besser präsentierten sich UNDEROATH, die aber in gewohnter Manier diverse Hits umschifften. Die große Bühne taugt für Spencer Chamberlain und Konsorten leider nur bedingt etwas. Energisch ging es dennoch auf und vor der Bühne zu, geboten wurden unter anderem „It’s Dangerous Business Walking Out Your Front Door“ und natürlich den Hit „Writing On the Walls“.
Besser als die Betroffenheitsfraktion machten es hingegen die drei Pop-Punker von MXPX, die viele alte Tracks schmetterten („Doing Time“, „Tomorrow’s Another Day“) und frei jeglicher Anbiederungsmentalität wie gewohnt einfach ihr Ding durchzogen. Neben zahlreichen alten Gassenhauern durfte man zudem bei „Heard That Sound“ oder „Punk Rawk Show“ abfeiern. Das galt auch für CATCH 22, deren Set („Point the Blame“, „It Takes Some Time“) in Ordnung ging, die aber einfach nicht über das konstant mitreißende Moment verfügen, um ihrem Ska-Core die zwingende Besonderheit zu verleihen. Mehr als nur ein Ausrufezeichen setzen konnten dafür die Bläser-unterstützten französischen Punk-Rocker von P.O. BOX, die der kleinen Bühne mit Songs wie dem grandiosen „Look What You Have Done“ mächtig einheizten und die Diver-Quote befeuerten. Überhaupt fand die kleinste Bühne an beiden Tagen regen Zuspruch und diverse Bands wurden frenetisch abgefeiert.
Der Samstag begann für viele der geschätzten 25.000 Besucher mit einem gewaltigen Schädel. Von frühzeitiger Beschallung hielt das aber erstaunlich wenige ab, was die Kieler Hardcore-Vertreter von TACKLEBERRY bereits um 10 Uhr morgens zu spüren bekamen. Das kleine Zelt tobte, das Restprogramm konnte getrost kommen. Mit der sympathischen belgischen NOFX-Kopie GINO’S EYEBALL wurde gleich auf den Headliner verwiesen, als zum Auftakt ein Cover von dessen Sekundenhit „Murder the Government“ zum Besten gegeben wurde. Die Lokalmatadore machten Spaß, ihre zumeist nationale Anhängerschaft feierte sie dazu gebührend ab.
Das mittlere Zelt war wieder klar Hardcore-dominiert. Erstaunlich früh traten bereits die honoren BANE auf und zeigten, warum mit ihnen auch nach fast 15 Jahren noch zu rechnen ist. Auch die mehr auf Krawall gebürsteten MISERY INDEX, die technisch anspruchsvollen ARCHITECTS oder die (gewohntermaßen) herrlich unaffektierten DARKEST HOUR sorgten bei durchweg anständigem Sound für Extrem-Klänge mit Niveau. Dem klassischen Hardcore frönten am Abend auf der kleinen Bühne DEATH BEFORE DISHONOR, in deren starkem Set „6.6.6. (Friends, Family, Forever)“ natürlich nicht fehlen durfte.
Bereits am Vormittag eröffneten THE FLATLINERS ihre Europa-Tour auf der großen Stage. Die jungen Kanadier, deren melancholischer, mitunter von Reggae durchzogener Punk-Rock im letzten Jahr auf viel Wohlwollen stieß, vermochten jedoch nicht vollends zu überzeugen. Dem Set fehlten entscheidende Hits, die durchwachsene Akustik beließ manch dargebotenen („Requiem“) auch nicht eben in verdientem Glanz. In kleinen Clubs sind die Jungs eindeutig besser aufgehoben. Nicht so THE UNSEEN, deren klassisch angehauchter Polit-Punk die Nietenkaiser und kunstvoll gen Himmel gestylten Irokesen-Schnitte auch vor großer Kulisse zum munteren Hymnenschmettern animierte.
Für einen vorzeitigen Höhepunkt sorgten die Bostoner STREET DOGS, die ihr jüngstes Album „State of Grace“ heuer fast komplett außer Acht ließen und stattdessen mit Gassenhauern des Schlages „Strike a Blow“, „Tobe’s Got a Drinking Problem“ oder „Fighter“ auftrumpften. Sänger Mike McColgan fühlte sich offensichtlich dazu berufen, rhythmisches Klatschen zum Fitnessprogramm zu erheben und bewies seine Agilität, indem er das Außengerüst der großen Bühne erklomm. Die nicht gespielten Hits der Bostoner hätten locker für eine weitere halbe Stunde gereicht. Etwas enttäuschend wirkten dagegen die Schweden-Punks von NO FUN AT ALL, die an gleicher Stelle im Vorjahr frenetisch bejubelt ihre Reunion verkündeten. Diesmal wirkte nicht nur der Klang saftlos, was Smasher wie „Believers“ oder „Beat ‚em Down“ nur bedingt zu egalisieren vermochten.
Australiens Pop-Punkabilly-Rocker THE LIVING END hatten zwar die Akustik, nicht aber die Ausgelassenheit auf ihrer Seite. Das Trio mit Kontrabass und massentauglichem Flair spulte zwischen neuen zwar auch einige alte Kracher („Growing Up“) ab, konnte aber eben nicht in erwartetem Maße punkten. Die Erwartungen vollends erfüllten dafür die VANDALS, die ebenfalls im Hauptzelt mächtig Alarm machten. Ihre ironische Pop-Punk-Persiflage wirkte frisch wie eh und je, was bei Darbietungen wie „And Now We Dance“, „My Girlfriend´s Dead“ oder „Oi to the World!“ auch keiner Überraschung gleichkam. Definitiv einer der kurzweiligsten Gigs des Festivals, was man auch an den deutlich positiven Publikumsreaktionen festmachen konnte. Eine Augenweide wie eh und je, dazu das Schlagzeugspiel von Josh Freese, dessen guter Ruf nicht von ungefähr kommt.
Reichlich Stimmung machten auch die Berliner Psychobillys von MAD SIN, wenn die das mittlere Zelt auch in einer Lautstärke beschallten, dass einem die Ohren flatterten. Ihnen folgte mit COMEBACK KID eines der Aushängeschilder des modernen Hardcore. Die immer sehenswerten Kanadier wurden auch in Belgien heftig abgefeiert. Wünsche blieben beim immer erstklassigen Programm („Partners in Crime“, „Broadcasting“) ohnehin keine offen. Erstaunlich überzeugend gaben sich BLEEDING THROUGH, die anschließend eine Mosh-Party mit hohem Bewegungsfaktor feierten. Vor ihnen erlebte die kleine Bühne mit NATIONS AFIRE eine sehenswerte Band zwischen Punk und Hardcore. Bei ehemaligen Mitgliedern von IGNITE und RISE AGAINST eigentlich auch kein Wunder.
Die erwähnten RISE AGAINST, mittlerweile (gerechtfertigt) zu Großverdienern avanciert, brachten die Menge im großen Zelt zu vorgerückter Stunde wahrlich zum Kochen. Der Sound spielte nicht unbedingt mit, dafür wurden ihre Stücke („Heaven Knows“, „Give It All“) aus unzähligen Kehlen unterstützt. Ein beeindruckendes, wenn auch im Rahmen einer Stunde etwas ermüdendes Schauspiel. Ihnen voran ging die grandiose Reunion-Show des Emo-Urgesteins THE GET UP KIDS, die von den Punker-Kollegen auf der Hauptbühne reichlich Lob einheimsten. Und das zu Recht, erwies sich der Klang doch als ebenso kolossal wie die Fülle unvergesslicher Hits („Don´t Hate Me“, „Red Letter Day“, „Ten Minutes“). Ein schieres Fest, nicht nur für Nostalgiker.
Den Vogel aber schossen an diesem Tag zwei Bands ab: Die erste, NOFX, lief als lebende Legende des Punk praktisch außer Konkurrenz auf. Die zweite sorgte bereits am Nachmittag für eine Party, an die sich jeder Anwesende wohl noch lange erinnern wird. Denn THE AQUABATS fallen nicht nur durch ihre exzentrischen Superhelden-Kostüme auf, sie binden diese auch in eine Live-Show ein, deren Prämisse die (nicht zwingend musikalische) Unterhaltung des Publikums bildet. MC Bat Commander und seine Getreuen, die nach rund 15 Jahren überhaupt das erste Mal in Europa auftraten, zelebrierten den Gig im Stile einer Andacht, kloppten sich artistisch mit einem goldenen Hünen und zeigten zwischen Synthie-Pop, Ska und Rock, warum ihr Ruf ihnen seit Jahren vorauseilt.
Höhepunkt ihres Auftritts, der mit „Fashion Zombies“, „Pizza Day“ und „Super Rad“ sowie einem „Hybrid Moments“-Cover von Glenn Danzig alle Phasen ihres Werdegangs abdeckte, war der Track „Pool Party“, zu deren Unterstützung aufblasbares Schwimm-Spielzeug und Planschbecken in die Menge geworfen wurden, die die Massen endgültig zur fröhlichen Raserei trieb. Nicht ganz so denkwürdig, dafür gewohnt eigensinnig gaben sich auch NOFX. Nach Mitternacht erzählten sie miese Witze (Fat Mike: „Warum gibt es bei „Star Trek“ keine Mexikaner? Na weil sie auch in der Zukunft nicht arbeiten.“) und reihten einen Hit an den nächsten. „Linoleum“, „Seeing Double at the Triple Rock“, „Kill All the White Men“ oder das RANCID-Cover „Radio“, bei diesem Querschnitt konnte und wollte kein Körper still stehen.
Und so gingen zwei schweißtreibende, in Teilen verregnete Tage voll exzessiver Alkoholvernichtung und sträflich ungesunder Ernährung (ein Hoch auf die Mexikano-Fleischkniften!) zu Ende. Benimmregeln galten nicht, die Zurschaustellung von Arschritzen und Pimmeln wurde wieder einmal zum Kulturgut erhoben, was vor allem zu fortgeschrittener Stunde merklich nervte. Musikalisch gab es abermals Unvergessliches – was will man also mehr? Außer vielleicht eine im nächsten Jahr (endlich) durchdachtere Organisation.
(Thomas / Christian)