Es gibt Bands, die möchte man über Jahre live sehen. Doch irgendwie klappt es nie. Entweder sind die Kinder krank, der Esel lahmt oder besagte Kollektive sagen ihre Auftritte ab. Für den Autor ist eine dieser Bands ALL ABOARD!. Oder besser: war es. Schließlich hat sich der Vierer aus Mönchengladbach aufgelöst; wohlgemerkt nicht, ohne vorangestellt eine letzte Gelegenheit des Live-Erlebnisses zu schaffen. Hier schließt sich der Kreis. Also auf Richtung Niederrhein!
Das Wetter passt nicht zum Anlass. Es ist warm und sonnig. Aber wer will beim eigenen Abgesang schon Hagelschauer? Bei der Ankunft am JCH Westend wartet gleich die erste Überraschung: nebenan ein Schützenfest! Kostümiertes Brauchtum der schrecklichsten Sorte. Davon ist im Club glücklicherweise nichts zu hören. Umgekehrt wäre ohnehin besser. Fürs Vorprogramm haben ALL ABOARD! befreundete Musiker*innen eingeladen. Dabei findet sich mit SHELLYCOAT eine weitere Band jener eingangs beschriebenen Gattung. Bei entsprechend fundierter Vorkenntnis hätte das auch für IRISH HANDCUFFS gelten dürfen. Oder müssen. Aber der Reihe nach.
Gegen halb acht ist es zunächst an PERFECT YOUTH-Frontmann Philipp (wahlweise auch Wolle), den musikalischen Reigen (trotz Sonne!) einzuleiten. In Singer/Songwriter-Manier werden Stücke verschiedener Bandstationen und Schaffensperioden dargeboten (und ein „Brooklyn Dodgers“-Cover von Vinnie Caruana) – dynamisch und persönlich. Ob er nun „Toxic Positivity“ bei Konzerten anprangert (vorausgegangen war die Frage, ob es dem Publikum gut ginge und mehr noch die lapidare Antwort: „Geht so!“) oder abseits des Mikros leidenschaftlich „Just like anybody else“ in den Raum schreit, die Einstimmung bleibt durchweg sympathisch.
Danach, ohne nennenswerte Umbaupausenverzögerung, IRISH HANDCUFFS. Das Trio aus Regensburg schmettert tempobewussten und obendrein hymnischen Punk-Rock, der alten Genre-Fans ein fettes Grinsen aufs Gesicht zaubert. Daran ändern an diesem Abend auch die technischen Probleme wenig, die den Mikrofonen wiederholt buchstäblich den Stecker ziehen. So gibt es „Waves“ weitgehend instrumental auf die Ohren. Dass die Forderungen nach einer Wiederholung – oder einer A-Cappella-Version am Merch-Tisch – ungehört bleiben, darf als einziges Manko des Auftritts deklariert werden. Das Set besteht in weiten Teilen aus Tracks des aktuellen Albums „Transitions“ (u. a. „Old Highs“ und „Palm Reader“). Nicht nur wegen diesem sollten die Jungs unbedingt im Auge (und Ohr) behalten werden.
SHELLYCOAT spielten mit ALL ABOARD! bereits diverse Konzerte. Die Beteiligung der Band um Frontfrau Karen schien daher verpflichtend. Im Jugendclub schöpft das Hamburger Quintett den überschaubaren Bühnenraum komplett aus und liefert eine rundheraus energiegeladene Vorstellung ab. Der vielseitig rockig flankierte Punk bietet schon auf Konserve ausreichend Gründe zum Mitgehen, wird vor Publikum aber um ein Vielfaches potenziert. Mit Hits des Kalibers „Reverberation“, „Antidote“, „Down and Out“ oder „Scream to Sleep“ konnte aber auch partout nichts anbrennen. Zum Abschluss wird der SAMIAM-Klassiker „Full On“ geschmettert. Der sitzt immer. Dank der stimmlichen Leistung von Karen packen sowohl die lauten als auch die leise(re)n Beiträge gleichermaßen. Es darf daher ein Rätsel bleiben, warum SHELLYCOAT nicht längst auf größeren Brettern heimisch sind.
Zum Abschluss des Abschlusses dann ALL ABOARD!. Während andere zum Abschied auf Großspurigkeit setzen, will der Vierer einfach einen lockeren Schlussstrich ziehen – und für Spottpreise Unmengen an Merch loswerden. Einschließlich Zugaben dauert das Bestehensfinale eine Stunde, während der die geschätzt 80-köpfige Meute, in der Hauptsache alte Weggefährt*innen, zünftig mitgehen. Die Ansagen, Danksagungen und Sympathiebekundungen besorgt Drummer Marius mit herrlich trockenem Humor. Emotional wird es trotzdem. Vor allem beim Americana-beeinflussten Punk, der über „Perfect Stranger“ und „Satisfiction“ standesgemäß eingeleitet wird.
Mit „On & On“, „Don’t Linger // Don’t Listen“, „Why Pretend?“, „Highway“, „57 Walnut Street“, „Snowblind“ oder „Wir bleiben hier!“ geht es quer durch die Diskographie. Stimmliche Unterstützung setzt es beim Uralt-Kracher „Abandon Ship“ (mit Philipp als Sänger) und „Flutes in the Night“, bei dem Karen wie auf Platte das Duett mit David ermöglicht. Der Sound ist insgesamt herrlich rau, die Stimmung prächtig. Das letzte Mal auf der Bühne wird damit zum großen kleinen Erlebnis – schön, dass es am Ende doch noch mit dem Live-Besuch geklappt hat. In diesem Sinne: Alles Gute!
Auf dem Weg zum Auto tobt das Schützenzelt. Die dort aufspielende Band fährt mit „Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse“ schwere Geschütze auf; begleitet von einer durch die Plastikhalle wabernden Polonäse. Gegensätze können so schön sein, manchmal aber auch einfach dazu verleiten, Feuer zu legen.