Am Ende eines jeden Musik-Festivals steht der lange Gang vom Zeltplatz. So auch beim Hurricane 2005. Es ist Sonntag, das Wetter steht entgegen einhelliger Vorhersagen auf Seiten der rund 65.000 Besucher. Während sich die QUEENS OF THE STONEAGE und DIE ÄRZTE auf ihre Auftritte am Abend vorbereiten, sitze ich im Zug nach Hause. Das Stechen in der Leber, der Talg in den Poren und die am Leib klebenden Klamotten künden von einem Wochenende voller Anstrengungen.
Im Zug nach Berlin der Liebe wegen. Fast so wie im KETTCAR-Song „48 Stunden“. Doch verbirgt sich hinter verkürzten emotionalen Entbehrungen auch Eigennutz. Der Wunsch nach einer heißen Dusche, einem warmen Bett und einem Klogang ohne vollgesogene Damenhygieneartikel und Fäkalien an den Wänden. Abgesehen davon lässt das Programm des finalen Festivaltages ohnehin dezent zu Wünschen übrig. Zumindest für Bizarre-Veteranen wie mich, denen zur sonntäglichen Versüßung stets die Punk-Rock-lastige Fat-Stage winkte.
So fällt der Abschied aus Scheeßel denn auch leichter als gedacht. Nach fast vier Tagen exzessiver Selbstdestruktion steht das Streben nach Ruhe – und die Wiedergewinnung der eigenen Stimme. Dem entsprechend ist der Zug Richtung Zwischenstopp Hamburg eine Oase der Stille, dankbarer Kontrast zu all den Partywütigen Campern und schwer rockenden Bands. Musiker, die mit starken Auftritten und sehenswerten Performances Glieder strapazierten und Minen erhellten.
Heimlicher Höhepunkt des Hurricane war OLLIE SCHULZ UND DER HUND MARIE. Am frühen Samstagnachmittag sorgte der Hamburger Barde mit amüsanten Anekdoten, denkwürdigen Ansagen und schrulligen Songs für bestens gelaunte Zuschauer. Und der Ruf des sympathischen Liedermachers schien im vorausgeeilt. Denn vorab fanden sich viele neugierige Gesichter, die mit sichtlicher Spannung die Dinge erwarteten, die Ollie – und Band – auf der Bühne präsentieren würde(n).
Zur musikalischen Seite: Das Set bestand in guter Mischung aus Songs seines Debüts „Brichst du mir das Herz, dann brech ich dir die Beine“ und dessen in Bälde erscheinendem Nachfolger „Das beige Album“. Dabei erbrachte Ollie Schulz einmal mehr den Beweis, dass er live um ein vielfaches besser kommt als auf Konserve. Das lag neben einem Spagat im Regen vor allem an Sprüchen wie: „Hört mal auf zu Klatschen. Ich bin doch nicht Peter Maffay.“ Allein dafür danke, Ollie.
Bereits einen Tag zuvor gaben sich die „Grand Hotel Van Cleef“-Kollegen von KETTCAR die Ehre auf gleicher Bühne. Die Akustik war Freitag etwas mau, worunter später auch WIR SIND HELDEN zu knabbern hatten. Allerdings unterstrich der dezente Klang den ruhigen Tenor der neuen KETTCAR-Stücke ausgezeichnet. Die vorgetragenen Songs ließen in ihrer Bandbreite ohnehin keinerlei Wünsche offen – auch wenn ich mir noch „Die Ausfahrt zum Haus deiner Eltern“ gewünscht hätte – so dass die Jungs aus Hamburg eines der ersten Konzert-Highlights des Wochenendes boten.
Zu denen muss neben THE ROBOCOP KRAUS auch das Gastspiel von BOYSETSFIRE gezählt werden, die am Freitag auf der großen Bühne einen ihrer überzeugenderen Auftritte absolvierten. Der Sound hatte Saft im Arsch und die verkappten Kommunisten sichtlichen Gefallen am munteren Treiben in Front der Stage. Bei TURBONEGRO gab es für die Turbojugend aus allen Teilen der Republik kein Halten mehr. Die Stimmung war ausgelassen, die Performance durchwachsen. Seelenheil für kostümierte Leichtmatrosen und „Clockwork Orange“-Schminker, nicht mehr als derber Schweinerock mit Verschleißerscheinung für mich.
Die NINE INCH NAILS gaben ein schickes Set zum besten, wollten mich allerdings nur bedingt mitreißen. WIR SIND HELDEN – überraschenderweise auf der kleinen Bühne zu finden – machten den Massen große Freude, während RAMMSTEIN bei teurer Feuershow ordentlich Zunder gaben. Dass sich hinter der Augenweide aus Pyrotechnik ganz und gar unterirdische Musik verbirgt, störte aber offenbar niemanden. OASIS wollten dann nicht mehr ganz so viele Leute anziehen, über zwei Stunden und durch alle Hits gab es für den geneigten Brit-Pop-Fan aber den Himmel auf Erden. Wohl auch, weil die Gallaghers weitgehend den Mund hielten.
UNDEROATH ließen ihr Publikum am frühen Samstag hängen, dafür stanken zum Auftakt AMPLIFIER ziemlich ab. FLOGGING MOLLY sorgten mit Folklore-Punk und Banjo für ausgelassene Begeisterung. MILLENCOLIN gewährten einen weiteren Einblick in die schwachen kreativen Erzeugnisse ihrer jüngeren Vergangenheit, retteten sich mit „Mr. Clean“, „Bullion“ und „Lozin´ Must“ allerdings noch in ein versöhnliches Ende. Auf das brauchten die BEATSTEAKS nicht zu spekulieren und gaben am frühen Abend eine gewohnt starke Darbietung.
AUDIOSLAVE – mittlerweile zu voller Individualität gereift – spielten neben eigenen auch Songs der Vorgängerfraktionen SOUNDGARDEN und RAGE AGAINST THE MACHINE, was bei „Black Hole Sun“ und allen voran „Killing in the Name of“ wahre Begeisterungsstürme entfachte. SYSTEM OF A DOWN rockten sich erwartungsgemäß den Arsch ab und setzten mit ihrer Performance das i-Tüpfelchen auf einen überaus gelungenen Festival-Samstag.
Der Rest war ein nebulöser Höllenritt aus hygienischer Misere – das Aufkommen an Toiletten auf dem Festivalgelände war ein schlechter Scherz – gefüllter Pizza – in Fachkreisen auch Teigziegel genannt – und obligatorischem Cuba-Libre-Frühstück – Limetten inklusive. Entgegen der gefürchteten Bizarre-Riots ging es auf dem Hurricane gesittet und zivilisiert zu – von kleineren Ausnahmen abgesehen. Nur die Rufe nach Helga wollten auch in diesem Jahr nicht verstummen.
Von Hamburg geht es weiter in die Hauptstadt. Zwischen Notizen für diesen knappen Überblick döse ich über mein Statistikbuch vor mich hin. Zu Hause wird erst einmal ausgeschlafen, was vernünftiges gegessen und geduscht – aber vermutlich nicht in dieser Reihenfolge. Was bleibt sind Erinnerungen an ein weiteres hochkarätiges Festival-Wochenende – mit guten Bands und vielen spaßigen Anekdoten. Doch die erzähle ich ein anderes Mal. Unterdessen muss das Fazit lauten: das Hurricane rockt! Im nächsten Jahr auch wieder mit uns – soviel steht fest.