The Woodsman (USA 2004)

the-woodsman„There ain’t no fucking woodsman in this world.”

Der titelgebende Woodsman dieses herausragenden Dramas ist der Holzfäller aus Rotkäppchen. Im Finale des populären Märchens befreit er das Mädchen mit seiner Axt unversehrt aus der Bauchhöhle des bösen Wolfs. Nach Auffassung des Polizisten Lucas (Mos Def, „Monster’s Ball“) gibt es keine rettenden Holzfäller mehr, nur noch Wölfe. Im besonderen spielt er damit auf Walter (Kevin Bacon, „Mystic River“) an. Denn Walter ist pädophil. Für die wiederholte Belästigung Minderjähriger hat er eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren verbüßt.

Nach seiner Entlassung bemüht sich Walter um Resozialisierung. Er bezieht ein kleines Apartment und findet einen Job in einem Sägewerk. Und doch lässt ihn seine Vergangenheit nicht ruhen. Walters Schwester hat den Kontakt zu ihm abgebrochen, nur über seinen Schwager Carlos (Benjamin Bratt, „Catwoman“) hält er die Familienbande aufrecht. Die Angst, entdeckt zu werden, belastet ihn ebenso wie die demütigenden Besuche von Sergeant Lucas. Die aufkeimende Beziehung zu Vicky (Kyra Sedgwick, „Murder in the First“) scheint ihm vorübergehenden Halt zu bieten – doch ist der Kampf gegen seine inneren Dämonen längst nicht entschieden.

Filmemacherin Nicole Kassell („The Ride Down Mt. Morgan“) folgt ihrem grandiosen Hauptdarsteller Kevin Bacon durch die Geschichte. Dabei wird der betrachtende Fokus kaum von seiner Person abgerückt. Walter ist Mittelpunkt und Herz des gesamten Films. Und obwohl die Kamera stets dicht am Geschehen verbleibt und tief in die Psyche der Figur eindringt, bewahrt die Regisseurin erforderliche Distanz. Der Zuschauer wird weder mit falschen Sympathiewerten geködert, noch um Verständnis gebeten. „The Woodsman“ ist weniger ein Plädoyer für Toleranz, als vielmehr die sensible Charakterstudie eines zerrissenen Menschen.

Die innere Unruhe Walters wird von Bacons Mienenspiel virtuos reflektiert. Stilistisch wird dabei besonders auf Naheinstellungen und Totale gesetzt. Das Gesicht eines Pädophilen allein mit den Gedanken des Betrachters. Es könnte auch ihr Kind sein. Hat der Mensch hinter der Straftat sein Leben damit verwirkt? „The Woodsman“ blickt nicht auf einen „nachrichtentauglichen“ Kinderschänder, keinen Vergewaltiger und Triebmörder. Walter ist der unscheinbare Belästiger, Menschen wie ihn könnte es zuhauf geben – überall. Das macht seine Taten nicht weniger verwerflich, doch ermöglicht es dem Film einen wertfreien Zugang in sein Leben.

Nicole Kassells Spielfilmdebüt, für das sie basierend auf dem gleichnamigen Stück von Steven Fechter auch das Drehbuch schrieb, nähert sich einem Tabu-Thema auf kluge Weise. Dass sie bei der dramaturgischen Zuspitzung von der stets realistischen Betrachtungsweise abrückt, schadet dem Film nicht. Denn die kathartischen Episoden mit Candy und Robin sind für den Ausgang der Geschichte unerlässlich. Dabei strebt „The Woodsman“ keine bereinigende Klimax an. In sanfter Stille verabschiedet sich Walter in eine ungewisse Zukunft. Was ist schon „normal“? Er könnte es herausfinden. Aber nur wenn wir ihn ließen.

Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

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